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Anmerkungen zur Rats-Sitzung vom 29.9.22
V0rbemerkung:
Der Verfasser dieser Zeilen war viele Jahre lang Mitglied des Rates (der Stadtverordnetenversammlung) und seiner Ausschüsse (u. a. Kulturausschuss, Vorsitzender Hans-Sachs-Haus-Ausschuss 1) und anderer Gremien (Aufsichtsrat Musiktheater, Findungskommissionen). Der Beitrag ist also nicht von jemandem verfasst worden, der nur „vom Schreibtisch her“ oder theoretisch Ratsarbeit kennt. Von daher erfolgt die Beschreibung und Bewertung der Ratssitzung auch aus dem Wissen, dass das Ehrenamt viel Zeit kostet und Engagement verlangt und dass Ratssitzungen oft eine körperliche und mentale Herausforderung sind.

Rats-TV
Es hat um die Übertragungen der Ratssitzungen eine lange Debatte geben, bis endlich der Beschluss gefasst worden ist, die Sitzungen des Rates „live“ zu übertragen. Ein Hauptziel war es, den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt eine weitere Informationsmöglichkeit neben der Teilnahme auf den Zuschauerbänken des Hans-Sachs-Hauses zu eröffnen. „Transparenz“ war eines der Schlüsselwörter. Man entschied sich in Gelsenkirchen für zwei Kameraperspektiven: Entweder wird die Sitzungsleitung in den Blick genommen oder das Rednerpult mit jeweils kleinen Bildausschnitten hinter oder neben der Position des jeweiligen Redenden oder der Oberbürgermeisterin (Sitzungsleitung). Eine wenig abwechslungsreiche Kameraführung also, die aber zugleich Tücken hat, weil sie (lediglich) die agierenden Personen am Pult oder am Leitungstisch sowie ihr Umfeld ins Bild rückt. Darauf wird weiter unten noch eingegangen.

Transparenz
Die Live-Übertragung gaukelt etwas vor, was in Wirklichkeit nicht vorhanden ist, nämlich Transparenz. Dabei folgt die Übertragung letztlich nur einem Skript, das bereits vor der Rats-Sitzung geschrieben worden ist, denn die Entscheidungen für oder gegen einen Antrag sind längst gefallen. Und zwar hinter verschlossenen Türen – in Gremien aller Art, solchen, die gewählt sind, und solchen, die bestimmt werden. Gewählt sind die Ratsmitglieder, aber bestimmt (und abgestimmt) wird in den Fraktionen, in Arbeitsgruppen, etwa der „Koalitionspartner“, auf dem „kleinen Dienstweg“ zwischen Fraktionsleitungen und unter teilweiser Hinzuziehung der Verwaltung. Das Zustandekommen der Verwaltungsvorlagen, die in den meisten Fällen (von Resolutionen oder Initiativanträgen einmal abgesehen) die Tagesordnung ausfüllen, bleibt -Live-Übertragung hin oder her – dem Bürger verschlossen. Die Hauptredebeiträge zu einzelnen Tagesordnungspunkten erfolgen nicht spontan, sondern sind vorab Rednern der Fraktionen zugeordnet, die auf den Fraktionssitzungen bestimmt worden sind. Spontane Redebeiträge sind die Ausnahme, bewegen sich aber auch zu 99% im Rahmen der von den Fraktionen beschlossenen Entscheidungen. Was wir also zu sehen bekommen, ist kein transparenter Entscheidungsprozess im Moment der Debatte, sondern eine nach bestimmten Mustern und den Bestimmungen von Satzungen choreographierte Inszenierung.
Das bisher Gesagte mag man als Kritik verstehen, ist aber nicht so gemeint, jedenfalls nicht wesentlich. Aus dem geschilderten „Setting“ werden aber häufig nicht die richtigen Schlüsse von den Beteiligten gezogen, also von denjenigen, die die Choreographie mit Leben füllen müssen, meint: von den im Ratssaal agierenden Personen.

Laienhaftes Agieren
Als Stadtverordneter füllt man ein Ehrenamt aus, keine Profession. Man ist ein Laiendarsteller, was ich nicht abwertend meine, solange man die Betonung auf das Grundwort legt (Darsteller) und nicht auf das Bestimmungswort (Laie) des Kompositums. Was bedeutet das aber? Das bedeutet: Sobald man den Ratssaal betritt, ist man keine Privatpersonen mehr, sondern ein Funktionsträger in einer politischen Inszenierung. Man hat den Mantel oder Rock des Privaten sozusagen an der Garderobe zu lassen. Anders als der Zuschauer im Theatersaal, der als Privater dort sitzt, füllt man eine Rolle aus – und man sitzt im Licht, und bei Anwesenheit der Kamera sogar in doppelter Weise, denn der Stadtverordnete wird nun auch außerhalb des Saals zum Agierenden unter den Blicken der Öffentlichkeit. Der Zuschauer im Theater versinkt während der Vorstellung im abgedunkelten Theaterraum; ob er einschläft, sich am Kinn oder sonst wo kratzt, fällt bestenfalls den unmittelbaren Nebenleuten auf. Er bleibt privat! Der Stadtverordnete wird erst durch den Eintritt in den Ratssaal ein solcher, er betritt in einer bestimmten Funktion die Bühne eines abgegrenzten Bezirks, der im Licht der Öffentlichkeit steht. Und hier gleicht er dem Schauspieler, der auf der Bühne des Theaters, anders als der Zuschauer, eben auch nicht „privat“ ist.

Das Private, das aber nicht politisch ist
Verfolgt man unter den bisher genannten Aspekten die Ratssitzung bzw. ihre Übertragung, wird man ausschnitthaft erkennen, wie das Private teilweise das Politische dominiert. Man sieht, dass die hinter dem Rednerpult sitzenden Funktionsträger während der Reden von Stadtverordneten auf Tablets daddeln, Süßigkeiten naschen, mit Nebenleuten reden und anderen Tätigkeiten nachgehen, die deutlich machen, dass es sie nicht die Bohne interessiert, was der unmittelbar vor ihnen stehende Redende sagt. Ergänzt werden die Nebentätigkeiten durch die auffällige Obsession, an den Mikrophonen herumzufummeln, als spiele man mit einem Lieblingsfetisch!
Wir sehen (in den ersten Minuten der Übertragung) eine Oberbürgermeisterin, die sich offensichtlich liebevoll die Hände eincremt und diesen Akt der Körperpflege intensiver ausübt als das Zuhören. Auch wendet sich die Leiterin der Sitzung gerne dem neben ihr postierten Adlatus zu, der, einem Disco-DJ gleichend mit großen Kopfhören ausgestattet, sie offensichtlich mit den wichtigsten politischen Informationen überhaupt (oder doch mit Informationen über Pflegeprodukte?) versorgt, so dass mit Blick auf die Sitzungsleitung der Eindruck großer motorischer Unruhe entsteht. Jedenfalls ist die Oberbürgermeisterin über weite Strecken nicht den Rednern zugewandt. Ihre Körperhaltung ist da recht eindeutig! Und man hat auch nicht den Eindruck, sie wolle Augenkontakt mit eventuell auf der Zuschauertribüne sitzenden Interessierten aufnehmen oder gar mit dem Publikum an den Empfangsgeräten der Live-Übertragung. Zu oft ist der Kopf nach unten gesenkt, geht der Blick auf vor ihr liegende Akten oder Notizen, die sie sich gemacht hat oder macht.
Und hier spielen jetzt die Kameraperspektiven eine Rolle, denn die Kameras sind durch ihren festen Standort auf das Agieren weniger Personen ausgerichtet – und werden dadurch gnadenlos. Sie legen die Unzulänglichkeiten im Verhalten der Akteure (verbal und non-verbal) in aller Brutalität offen – was natürlich auch die Rednerinnen und Redner am Pult betrifft. Ein Urteil über die rhetorischen Fähigkeiten der am Pult Stehenden will ich nicht fällen, das wäre unangemessen. Mein Eindruck ist aber, dass die Anwesenheit der Kamera die Redner eher fesselt, emotionale Regungen zerstört, die Stimmlage – vielleicht ohne dass die Redenden sich dessen bewusst sind – zu einem mittelmäßig-monotonen Sprechen herab regelt. Man will schließlich keinen Fehler machen und die Kontrolle nicht verlieren!

Kontrollverlust
Doch dies gelingt nicht, jedenfalls nicht ständig. Schrecklich-schöne Beispiele lieferte bei der Ratssitzung die Oberbürgermeisterin in mehrfach Hinsicht. Zunächst meinte sie, die Dezernentin Heselhaus ein wenig vorführen zu müssen. Diese hatte zum Thema „Integrationsrat“ eine juristisch verklausulierte und langatmige Erklärung abgeliefert, die aber durchaus noch zugänglich war – auch für einen Menschen ohne juristische Ausbildung. Ohne dass dafür nun eine Notwendigkeit bestand, meinte die Oberbürgermeisterin im Anschluss an den Beitrag wohl, diesen jetzt in „einfache Sprache“ übersetzen zu müssen. Eigentlich eine Ohrfeige für die Dezernentin, die Stadtverordnetenversammlung und das Publikum, das nun durch die Frau Oberbürgermeisterin, sozusagen im Stil einer Gouvernante von oben herab, noch einmal belehrt wurde unter dem Motto: Habt ihr das jetzt auch alle verstanden? Das ganze Erklärungsgeplauder wurde vorgetragen in „genervtem Tonfall“!
Schlimmer und zudem ein durch nichts zu rechtfertigender Ausbruch des Privaten, aber mit politischen Folgen: Während eines Beitrags hatte der Stadtverordnete B.W. in durchaus noch sachlichem Ton und ohne jede Häme angemerkt, die Frau Oberbürgermeisterin wirke ein wenig beleidigt, was nun dazu führte, dass die OB dem Redner das Wort abschnitt, um – in schriller Tonlage- zu betonen, dass sie nicht beleidigt sei (was dadurch natürlich erst recht als korrekte Annahme gelten musste). War das Unterbrechen der Rede des Stadtverordneten schon Zumutung genug, so erteilte sie, ohne eine Bitte um Entschuldigung für ihr vorausgegangenes Verhalten (die Unterbrechung der Rede), dem Stadtverordneten das Wort einfach nicht mehr, sondern schnitt seinen Redebeitrag an der Stelle ab. Das war mehr als gouvernantenhaft, das war undemokratisch und ein Bruch im Umgang mit Stadtverordneten. Als dann ein weiterer Stadtverordneter anmerkte, dass ihr Vorgänger zwar nicht immer einfach gewesen sei, aber die Sitzungen anders geleitet habe, war die Oberbürgermeisterin endgültig bedient und – hier kommt wieder die Kamera ins Spiel – man konnte ihr förmlich ansehen, wie anstrengend es für sie war, nicht vollends die Contenance zu verlieren. Es mag sein, dass der Oberbürgermeisterin noch die Bielendorfer-Welge-Affäre in den Kleidern hing, aber sie wurde in ihrem Mangel an Souveränität durch ihr eigenes Verhalten vorgeführt – festgebrannt durch die Bilder der Kamera! Ihr entglitt das Politische in Richtung auf das Private (beleidigt sein!). Auch der Oberbürgermeisterin scheint nicht vollends klar zu sein, dass auch sie eine Funktion und eine Rolle auszufüllen hat.
Eine Sitzung leiten und moderieren – das ist nicht einfach! Und die Kameras machen das deutlich und legen jede Unzulänglichkeit offen!
Ohne Nachsicht! Ohne Gnade!

Zuletzt

Die Tätigkeit als Stadtverordneter bringt keine große Ehre oder größere Ehrungen ein. Die Aufwandsentschädigung ist, ich sage mal, überschaubar. Wer die Aufgabe übernimmt, mag sich geschmeichelt fühlen und wichtiger vorkommen, als er ist. Aber man erfüllt eine Aufgabe für die Gemeinde und die Gemeinschaft – ähnlich wie die ehrenamtlichen Trainer in den Jugendabteilungen der Sportvereine oder die Fußballschiedsrichter, die samstags und sonntags dafür sorgen, dass ein Spielbetrieb der Amateurligen überhaupt stattfinden kann und die oft genug auf den Plätzen angefeindet werden. Respekt also – bei aller Kritik! Denn es gilt für die ehrenamtlichen „Politiker-Darsteller“ im Rat der Stadt, was Friedrich von Schiller einst über Darsteller auf der Bühne sagte: „Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze.“
Und was die Übertragung der Ratssitzungen betrifft, könnte es ein Gewinn sein, wenn die Stadtverordneten sich einmal eine komplette Aufzeichnung einer Sitzung gemeinsam ansehen würden, um dann vielleicht festzustellen, dass ihr Agieren zumeist wohl kein Interesse an politischem Engagement weckt, sondern eher die Sehnsucht nach einem langen und tiefen Schlaf. Oder mit George Bernhard Shaw:
„Auch Schlafen ist eine Form der Kritik, vor allem im Theater.“
Und bei Ratssitzungen, möchte ich ergänzen!

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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12 Kommentare
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Heinz Niski

Mag sein, dass ich selektiv wahrnehme. Die Tendenz beim Rats TV scheint mir, dass die AfD ihre verstörend-irritierenden Auftritte erfolgreich eingehegt hat, die CDU wohltemperiert in Intonation und Verbindlichkeit agiert, WIN geschickt ihr Klientel durch die Inszenierung der Underdog-Rassismus-Minderheiten Karte bedient, warum auch immer sekundiert von den Grünen. Die Linke meint es gut, die Partei „Die Partei“ versucht es subversiv, die SPD sucht immer noch ihre Rolle, nachdem die Ära des hemdsärmeligen Rabaukentums mit dem Ausscheiden Klaus Haertels Geschichte ist.

Also alles auf dem guten Weg, mir als Zuschauer Basisdemokratie „angenehm“ vorzuführen. Hier wirkt sich je nach Lesart die neue Öffentlichkeit der „Streamer“ positiv oder negativ auf die Vertreter der Bürger aus.

Weil aber Kameraführung und Schnitt völlig an den Sehgewohnheiten unserer Mediendemokratie vorbeigehen, muss ich mich als Zuschauer und Sklave meiner Spiegelneuronen und Empathie, ununterbrochen gegen die Vereinnahmung der Versammlungsleitung durch ihre Mimik, Gestik, Stimmlage wehren.

Menschlich alles nachvollziehbar und sympathisch, als Werben um die Gunst des Bürgers und Verständnis für die Funktionsweise kommunaler Demokratie mindestens fragwürdig.

Nach der sehr zupackenden Art Werner Kuhlmanns, des teflon-sphinxhaften Frank Baranowskis, nun eine erste Bürgerin zu haben, die aus ihrem Herzen keine Mördergrube macht und mit jeder ihrer rund 30 Gesichtsmuskeln kommentiert, was sie von Personen und politischen Positionen hält, finde ich spannend.
Ob es reicht, um Serienjunkie des Rats-TV zu werden….. ???

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Ro.Bie.

Was los – seit geraumer Zeit kuschelst du – obwohl die Vorstellung schwer fällt – mit der OB! Ich mach mir Sorgen.

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Heinz Niski

sieht das so aus? Grübel. Zwischen den Zeilen versteckte Kritik wird leicht überlesen. Der Fairness halber sollte ich erwähnen, dass ich die WAZ Kampagne „Auftrittsverbot Bielendorfer“ unangenehm fand, das Management dieses „Skandälchens“ durch Frau Welge allerdings dürftig und dünn. Stilberatung und Outfitservice hilft der Charming Offensive und Bürgernähe in den sozialen Medien, das Verhalten als Gesprächsleitung oder ein falsches Späßchen in launiger Runde, kann das alles wieder über den Haufen werfen.

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Ro.Bien.

Menschen mit Stock im Ar–habens halt nicht leicht. Mich wundert immer wieder, dass ausgerechnet solche wie die OB – 1. sich eine Stadt wie Gelsen antun und 2. offenbar trotzdem machtgeil genug dafür sind.
Gute Presseprecher sind immer so gut wie ihre Leitungen es zulassen- und sollten spätestens mit deren Abtritt ausgewechselt werden.

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Heinz Niski

it’s a long and winding road from xanten to gelsentown… https://twitter.com/KarinWelge

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Ro.Bien.

Wat willse denn damit sagen? Dass ihr blond besser steht? Ich war zwar noch nie In Xanten – aber schöner als in GE isses da bestimmt…

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Heinz Niski

Statistisch gesehen wird Gelsenkirchen als Sprungbrett für höhere Weihen genutzt, der Weggang einiger Dezernentinnen und Polizeipräsidentinnen sprechen eine deutliche Sprache.

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Ro.Bien.

 Ich bitte Sie…seit 2009…vielleicht ist das gerade das Problem…den Absprung vom Sprungbrett verpasst.

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Heinz Niski

Präsident der kommunalen Arbeitgeberverbände zu sein, ist schon eine Hausmarke, das wirst du nicht, weil du blonde Haare hast. https://de.wikipedia.org/wiki/Vereinigung_der_kommunalen_Arbeitgeberverb%C3%A4nde

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Ro.Bien.

Das bezweifele ich. Es sind schon andere in lukrativere Lobbyposten geschlittert. Wenn das Parteibuch stimmt – und Unternehmen- sich Vorteile davon versprechen.

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Ali-Emilia Podstawa

Wie dem auch sei.
Aber die Jugendherberge in Xanten ist top. Ansonsten ist die Ähnlichkeit mit GE groß. Man erinnert sich an längst vergangene Zeiten und hofft darauf, dass die Trümmer der Vergangenheit Interesse erwecken bei Leuten, die zufällig vorbeigekommen sind.

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