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Eine Erlebnisschilderung als Einleitung:

Vor ein paar Tagen las ich eine Hausaufgabe meines Sohnes Felix (3. Grundschulschuljahr) im Fach Deutsch. Es waren ein paar Sätze zu schreiben, die Fragen zu einem kleinen Text beantworten sollten. Die Sätze von Felix umfassten rund 30 Wörter, von denen gut die Hälfte falsch geschrieben war. Unter seinem Aufsatz lachte ein fröhlicher Stempelaufdruck, der den Anschein erweckte, die Hausaufgabe sei kontrolliert worden. Ich wunderte mich natürlich, dass kein Fehler angestrichen bzw. keine Korrektur vorgenommen worden war, denn immerhin werden im 3. Schuljahr schon Diktate geschrieben, die benotet werden.

Am Elternabend brachte ich meine Verwunderung zum Ausdruck – und meine Verwunderung steigerte sich zur Fassungslosigkeit. Die Lehrerin hatte die Hausaufgaben nicht kontrolliert. Es gibt aber einen Hausaufgabendienst. Das sind Mitschülerinnen und Mitschüler aus der Klasse, die herumgehen und kontrollieren, ob die Hausaufgaben gemacht sind. Steht etwas im Heft, gibt es den fröhlichen Stempeldruck. Ob das gequirlter Unsinn ist, was da im Heft steht, können die Kontrolleure natürlich nicht beurteilen und schon überhaupt nicht korrigieren – wie sollten sie auch. Meine Frage an die Lehrkraft, ob es nicht möglich sei, im Wechsel zwischen Deutsch, Mathematik und Sachkunde  die Hausaufgaben zu kontrollieren, wurde mit Verweis auf die Arbeitsbelastung verneint. Meine Frage, ob es denn nicht möglich sei, regelmäßig wenigstens drei bis vier Hefte nachzuschauen, wurde mit schweigendem Lächeln pariert.

Die aktuelle Debatte um G8/G9

Ganz so lang ist es nicht mehr bis zur nächsten Landtagswahl in NRW. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass, neben anderen Streitpunkten innerhalb der Regierungskoalition, auch das Thema Schule wieder nach vorne rückt. Nachdem die grüne Schulministerin über Monate starrsinnig am G-8–Konzept, das sie handwerklich schlecht organisiert eingeführt hat, das aber natürlich verbessert werden sollte, festgehalten hat, kommt sie jetzt mit der Idee einer völlig flexibilisierten Oberstufe um die Ecke, wogegen der Koalitionspartner SPD gleichzeitig einen Eiertanz um die Frage G8 oder G9 aufführt.

Nur zur Erinnerung: Das G-8-Modell basiert auf einer Entscheidung der CDU-FDP-Vorgänger-Landesregierung und war bzw. ist das Wunschmodell der Industrieverbände gewesen (wie etwa BDI), die mit propagandistischem Dauerfeuer gefordert hatten, die Schulzeit zu verkürzen und die jungen Leute schneller reif für den Arbeitsmarkt zu machen. Diese Forderungen wurden bildungspolitisch im Kontext der Entwicklungen nach PISA unterfüttert mit Begriffen wie „0utput-Orientierung“, „Kompetenzorientierung“, „autonomes Lernen“ und „schüleraktivierender Unterricht“. Drastisch formuliert: durch eine Verkürzung der Schulzeit bei gleichzeitiger Senkung der Anforderungen ist die Zielvorgabe zu erreichen, mehr Schülerinnen und Schüler als je zuvor zu Bildungsabschlüssen zu führen, wobei gleichzeitig die Durchschnittsnoten, wiederum beim Abitur, zu heben und die Quote der Sitzenbleiber und der Schüler ohne Abschluss zu senken ist. Dieses Ziel wurde übrigens erreicht: immer mehr Schülerinnen und Schüler machen mit immer besserem Notendurchschnitt Abitur; die Zahl der Abiturienten mit einem 1er-Abi wächst seit Jahren.

Dass in der Konsequenz die Klagen der Universitäten über studierunfähige Erstsemester wachsen und deshalb vermehrt „Prä-Exzellenz-Kurse“  angeboten werden müssen, in denen  den Neustudenten fachlich und methodisch auf die Sprünge geholfen wird, sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt.

Machen wir ´mal eine einfache Rechnung: Peter geht zum G8-Gymnasium und macht mit 17 sein Abitur, er bekommt also das „Zeugnis der Reife“! Mama und Papa begleiten ihn zur Uni, damit der reife Peter sich einschreiben kann(weil er noch nicht volljährig ist, müssen die Eltern Unterschriften leisten). Peter ist fleißig. Er studiert eifrig und macht nach 6 Semestern seinen Bachelor-Abschluss. Peter ist jetzt gerade mal 20 geworden, steht aber dem Arbeitsmarkt bereits zur Verfügung – jedenfalls von den Papiervoraussetzungen her.

Ob er eine Persönlichkeit ist, über Lebenserfahrung, Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis verfügt, mag einmal dahin gestellt sein (das ist auch bei G-9-nicht gewährleistet), aber immerhin hat er die Aussicht, jetzt etwa 50 Jahre zur Arbeit zu gehen. Da hat sich das eine Jahr der Schulzeitverkürzung doch wirklich für ihn gelohnt, oder?

Letztlich ist der Streit um G8 oder G9 nur der Streit um ein Oberflächenphänomen – im Kern geht es um die Aushöhlung und Verflachung dessen, was einmal Bildung hieß, also die Aneignung von Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten,  die – mit dem Alter wachsende – Möglichkeit und Fähigkeit, komplexer und komplizierter werdende Strukturen, Phänomene und Probleme zu erkennen, zu erfassen und zu durchdringen. Bildung aber auch als Fähigkeit, sich aktiv mit sich selbst, seinen Mitmenschen und der Gesellschaft auseinanderzusetzen und zur demokratischen Teilhabe in der Lage zu sein, einen Standpunkt beziehen und Auffassungen anderer beurteilen zu können. Kurz: befähigt zu sein, eine  reflektierte Position in der dinglichen und geistigen Welt einnehmen zu können.

Dass einer solchen Entwicklung eine verkürzte (besser: zusammengestauchte) Schulzeit, die noch dazu sozialen Aktivitäten (Sport, Pflege von Freundschaften, Ausleben und Entwickeln von Interessen, ehrenamtliche Tätigkeit) ebenso abträglich ist wie eine Punkte-Jagd in einem modularen  Studium, das das Hineinschnuppern in andere Fächer und Themen und somit den Zugriff auf den in Theorien geronnen Wissens- und Erfahrungsschatz der Menschen erschwert, liegt auf der Hand.

Die Rückkehr zu G9 wird also nur dann zu einem echten Fortschritt, wenn damit gleichzeitig eine Rückbesinnung einsetzt auf das, was Bildung auf dem Weg zur Reife wirklich bedeuten soll.

Der Grundschüler als Thekenfachkraft

Felix, mein Sohn im 3. Grundschulschuljahr, ist jetzt übrigens so eine Art Thekenfachkraft – eine Mischung aus Wirt und Kellner. Er lernt nämlich in diesen Tagen etwas über Fledermäuse – mit Hilfe der Methode der Lerntheke. Das bedeutet, dass zwanzig verschiedene Arbeitsblätter zum Thema „Fledermaus“ gestapelt  wie auf einer Kneipen- oder Ladentheke nebeneinander angeordnet sind. Von den zwanzig Arbeitsblättern sollen mindestens 8 von den Schülern selbstständig bearbeitet werden. Wer ein Arbeitsblatt vollständig bearbeitet hat, ist für das jeweilige Thema „Experte“, den die anderen um Hilfe bitten können. Also in etwa so, als ob man den Barkeeper um Rat bei der Auswahl des Cocktails bittet oder nach der Rezeptur des Getränkes fragt: Thekenfachkraft eben. Da sage noch einer, Schule bereite nicht aufs Leben vor!

 

 

 

 

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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