Though this be madness, yet there is method in it (Shakespeare, Hamlet, II/2)
Mütze nicht, aber Kappe ab!
Ein Sozialdemokrat, der über viele Jahre in hoher Funktion in Gelsenkirchen Verantwortung getragen hat und, bevor er nach Gelsenkirchen gekommen ist, in der legendären „Baracke“ der SPD gearbeitet hat und dort auch den „großen alten Männern“ der Partei begegnet ist (Wehner, Willy Brandt usw.), hat mir mal vor etlicher Zeit in einem Gespräch sinngemäß gesagt, der Niedergang der SPD habe damit begonnen, dass sich die Partei als eigenständige Partei aufgegeben habe und sich nur noch als Unterstützung der Regierung, wenn die SPD beteiligt war, gesehen hat, also sich auf die Aufgabe des Machterhalts reduziert hat. Aus diesem Blickwinkel hat er auch das Zusammenführen der Funktion des (Ober-) Bürgermeisters (politische Führung) und des (Ober-) Stadtdirektors (Führung der Verwaltung) eher negativ bewertet.
In diesen Tagen musste ich an das weit zurückliegende Gespräch denken, nämlich als Rolf Mützenich, der Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag, Kritik an der geplanten Stationierung von US-amerikanischen Tomahawk-Marschflugkörpern und neuen (Hyperschall-) Raketensystemen übte. Dabei stellte Mützenich die gegenüber älteren Systemen weitaus kürzere Vorwarnzeit in den Mittelpunkt seiner Überlegungen und hob auf eine militärische Eskalation aus „Versehen“ ab (Computerfehler, Fehlalarme u. ä.). Für diese Position bekam Mützenich ordentlich auf die Mütze – sowohl in der Presse als auch aus den Reihen der „Ampel“. So wurde er etwa in der F.A.Z. in einem Kommentar als „Friedenstäuberich“ denunziert, der „naiv“ und „verantwortungslos“ ist.* An vorderster Front der Mützenich-Kritiker war natürlich die Weltaußenministerin Annalena Baerbock, die übrigens ebenfalls die Vokabeln „naiv“ und „verantwortungslos“ benutzte, die der F.A.Z. -Mann in seinem Kommentar dann zweitverwertete: „Außenministerin Annalena Baerbock hat die geplante Stationierung weitreichender amerikanischer Raketen in Deutschland gegen Kritik verteidigt. Der russische Präsident Wladimir Putin habe “das Arsenal, mit dem er unsere Freiheit in Europa bedroht, kontinuierlich ausgebaut”, sagte die Grünen-Politikerin den Zeitungen der Funke Mediengruppe. “Dagegen müssen wir uns und unsere baltischen Partner schützen, auch durch verstärkte Abschreckung und zusätzliche Abstandswaffen.” Alles andere, betonte Baerbock, “wäre nicht nur verantwortungslos, sondern auch naiv gegenüber einem eiskalt kalkulierenden Kreml”.**
An den Äußerungen Mützenichs und Baerbocks sind verschiedene Aspekte interessant: Im Grunde wiederholt sich hier die Gegenüberstellung der Positionen aus der Friedensbewegung und der offiziellen Regierungspolitik am Ende der 70er Jahre und dem Beginn der 80er Jahre im Zusammenhang mit der Stationierung von amerikanischen Pershing-Raketen und Marschflugkörpern in Westdeutschland, die mit der Aufrüstung der (damaligen) Sowjetunion (SS-20-Raketen) begründet wurde (NATO-Doppelbeschluss). Auch die jetzt angekündigte geplante Aufstellung der neuen Systeme steht im Zusammenhang mit dem Vorwurf, Russland habe bereits massiv aufgerüstet und zeige durch den Angriffskrieg gegen die Ukraine seine Aggressivität und seinen Mangel an Bereitschaft zu Verhandlungen über das Ende des Krieges und Verhandlungen zur Abrüstung
Verändert haben sich aber die Rollen und Positionen einiger beteiligter Protagonisten. Die GRÜNEN, die sich 1980 gründeten, waren damals Teil der Friedensbewegung. Aus dieser Bewegung sowie aus der Umwelt- und Frauenbewegung und anderen „neuen sozialen Bewegungen“ (Anti-Atomkraft-Bewegung) speisten sich die GRÜNEN bei ihrer Gründung (im Westen). Heute sind die Grünen die lautesten und aggressivsten Rufer für eine militärische Unterstützung der Ukraine und die größten Befürworter der Aufrüstung der Bundeswehr. Sie unterstützen auch uneingeschränkt die Stationierung der neuen Waffensysteme.
Teile der SPD protestierten damals gegen die offizielle Regierungslinie der von Helmut Schmidt geführten Regierung. Von 1974 bis 1982 war er als Regierungschef einer sozialliberalen Koalition nach dem Rücktritt Willy Brandts der fünfte Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Schmidt setzte sich vehement für den NATO-Doppelbeschluss ein! Die SPD ist heute wieder Regierungspartei und stellt mit Olaf Scholz den Kanzler der Ampel-Koalition. Aus den Reihen der SPD kommt bzw. kam bisher kein lauter Widerspruch gegen die offizielle Regierungslinie. Erstaunlich ist es deshalb, dass der Fraktionsvorsitzende warnend seine Stimme erhebt, denn Mützenich ist klug genug zu wissen, dass er vielleicht für Teile der SPD-Mitgliedschaft spricht, aber seine Position in der Regierungskoalition wahrscheinlich nicht mehrheitsfähig ist.
Und hier sind wir beim Anfang des Beitrags! Die SPD ist in der Koalition gefangen, sie ist Regierungspartei, die Partei versteht sich als Unterstützerin der Exekutive. Die SPD hat es verlernt, die Meinungsführerschaft in gesellschaftlichen Fragen zu übernehmen, weil sie gefangen ist im Netz der Regierungsverantwortung. Jegliche Debatte zum Ukraine-Krieg und der militärischen Aufrüstung ist geeignet, den Kanzler und die Regierung zu schwächen und wird deshalb vermieden. Mützenich hat dieses „Stillhalten“ für einen Moment an einer Stelle durchbrochen. Man kann noch nicht einmal mit Gewissheit sagen, ob er mit seinen Gedanken einen größeren Teil der Partei repräsentiert oder nur einige „Granden“, die – teilweise – schon der alten Friedensbewegung zuzurechnen sind. Die taz schreibt dazu: „ Noch deutlich schärfere Worte (als Mützenich, BM) findet eine Gruppe überwiegend älterer Sozialdemokrat:innen, unter ihnen Ex-Bundesjustizministerin Hertha Däubler-Gmelin, die frühere NRW-Wissenschaftsministerin Anke Brunn, die ehemalige Bonner Oberbürgermeisterin Bärbel Dieckmann und – mal wieder – der 75-jährige Willy-Sohn Peter Brandt. „Nein zu neuen Mittelstreckenraketen!“, ist ihr gerade veröffentlichter Aufruf überschrieben.“***
Entscheidend ist dabei aber, dass die SPD nicht mehr die Avantgarde einer gesellschaftlichen Debatte ist, dass sie vielmehr eher orientierungslos ist und sich darauf beschränkt, die Position der Regierung (stillschweigend) zu akzeptieren. Sie ist gefangen im „Regierungssystem“ und muss deshalb ertragen, dass eine Ministerin der GRÜNEN, die im Welt-Orchester der Außenminister und Außenministerinnen bestenfalls die Triangel spielen darf und ansonsten schon viel leistet, wenn man nicht über sie lacht, die Positionen des Fraktionsvorsitzenden der ältesten demokratischen Partei in Deutschland „naiv“ und „verantwortungslos“ nennt.
Es ist eine eigentümliche Wendung der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte, dass Menschen, egal ob mit einem politischen Mandat ausgestattet oder nicht, heutzutage als Werkzeug Putins, als Naivling, als verantwortungsloser Mensch oder als „Friedenstäuberich“ abqualifiziert werden, die nicht nach einem Waffengang rufen, sondern vor den Gefahren eines Krieges warnen.
Wer hier aber die Kappe ab hat, wird sich noch zeigen müssen!
*** https://taz.de/Stationierung-von-Mittelstreckenwaffen/!6024780/
Die Opferbereitschaft der Deutschen ist weltweit einzigartig. Im Konfliktfall wird Deutschland pulverisiert. Ist politisch, rational kaum zu erklären, eher ein Fall für einen Gesellschafts-Psychiater. Todessehnsucht, nicht mit Sprenggürteln, sondern mit Hightech Wettrüsten und völliger Agonie. Politisch, kulturell, militärisch, irre.. die spinnen, die Deutschen.
Facebook sagt zu diesem Kommentar:
Neeee….
neee.. neee.. neee…
Im Fazzebuch geschrieben:
Freundlicher Versuch einer Ehrenrettung der Sozen…
Ich habe im Flurfunk gehört, dass es an der Basis brodelt und rumort. Reicht noch nicht, um den Deckel fliegen zu lassen, Reste von Anständigen und politisch Denkenden scheint es aber noch zu geben.
Ick freu mir jezz schon nen Ast über die Erklärungen der Grünen, wenn Trump an die Macht kommen sollte und den Krieg mit Russland für einen Irrtum erklärt. Da kommt vor allem die Parteibasis ins Schwimmen. Die Funktionäre werden ihre Schlachtrösser satteln, ihre Lanzen einlegen und mit dem Ruf “Germans to the Front” China aufrollen. Zu Wasser, zu Land und in der Luft. Die Chinesen werden auf Knien darum betteln, deutsche Infrastruktur zu lernen, Verwaltungseffizienz, wie man funktionelle Analphabeten schafft und sich an die “Hunnenrede” von Kaiser Wilhelm erinnern: