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Vorbemerkung: vor einigen Jahren chippte mich ein führender Betriebssystemhersteller mittels einer Impfe gegen eine ansteckende Krankheit und erteilt mir nun ab und an den Befehl, zu ausgewählten Themen Prosa, Lyrik und auch Pamphlete zu erstellen. Heute Nacht wurde ich gezwungen, einen futuristischen Schelmenroman zu Papier zu bringen.

Kapitel 1: Der Blockwart erwacht

Es war ein kühler Herbstmorgen im Jahr 2029, als sich Elyas Wacław, seines Zeichens Blockwart in einer namenlosen Ruhrgebietsstadt, aus seinem alten Ledersessel erhob. Die Sonne kämpfte sich durch den ewigen Dunstschleier, der über den Städten lag, und Elyas wusste, dass es wieder ein harter Tag werden würde. Die Stadt, einst lebendig und voller Menschen, war nun ein Schatten ihrer selbst. Der Krieg lag in der Luft, und die ständige Angst vor einem russischen Angriff hatte die Gesellschaft in einen straffen Ausnahmezustand versetzt.

Elyas war 75 Jahre alt, aber die Bürde seines Amtes hielt ihn in Bewegung. Sein täglich Brot verdiente er nicht nur durch seine patriotische Hingabe, sondern auch durch die kniffligen Aufgaben, die ihm der Staat aufgebürdet hatte. Besonders heute, wo er wieder auf Tour gehen musste, um die Bürger seiner Stadt zu erinnern, dass ihre geliebten Haustiere nicht länger Familienmitglieder, sondern wertvolle Nahrungsressourcen waren.

Kapitel 2: Das große Tieropfer

Im städtischen Büro des Blockwarts stapelten sich Aktenordner, gefüllt mit den Namen von Hundebesitzern, Katzenliebhabern und Kleintierfreunden. Elyas griff sich die Liste für den heutigen Tag. “Frau Müller – zwei Perserkatzen”, las er vor sich hin und schüttelte den Kopf. „Als ob die alten Weiber ihre Viecher jemals freiwillig abgeben würden“, murmelte er und griff nach seiner Dienstmütze.

Der Staat hatte es zur obersten Pflicht gemacht, die schier endlosen Mengen an Haustieren zu Pasteten und Würsten zu verarbeiten, um die Nahrungsknappheit in den Griff zu bekommen. Jeder, der sich weigerte, wurde mit drastischen Maßnahmen bestraft: Girokonto gesperrt, Gesundheitskarte eingezogen – und das war noch die milde Variante.

Elyas schwang sich auf sein altes E-Bike und trat in die Pedale. Die Straßen waren leer, die Menschen hatten sich in ihre Häuser zurückgezogen, aus Angst vor den täglichen Kontrollgängen der Blockwarte. Elyas kannte jede Ecke seiner Stadt, und jede Tür, hinter der ein Tierliebhaber wohnte, war ihm vertraut. Er wusste, dass ihn heute wieder viele Tränen und flehentliche Bitten erwarten würden – doch er war der Meinung, dass er nur das Beste für sein Land tat.

Kapitel 3: Alufolie und Jodtabletten

In den letzten Wochen war das Gerücht umgegangen, dass man es in Berlin versäumt hatte, ausreichend Atomschutzbunker für die Bevölkerung zu bauen. In seiner neuen Rolle als „Sicherheitsbeauftragter“ bekam Elyas daher zusätzlich die Aufgabe, Alufolie und Jodtabletten an die Bürger zu verteilen. “Die Leute werden eh alle verrückt”, dachte er sich, während er die nächste Packung Jodtabletten in seine Tasche stopfte. Aber es gab ihm eine Art von morbider Freude, wenn er daran dachte, wie die Menschen sich in ihren Wohnungen mit Alufolie umwickeln würden – als ob das wirklich gegen eine atomare Explosion helfen könnte.

Kapitel 4: Barrikaden und Verwirrung

Die Straßen waren voll mit Sperrmüll. Es hatte sich herausgestellt, dass die alten Matratzen, kaputten Schränke und rostigen Fahrräder, die einst nutzlos am Straßenrand lagen, jetzt als Barrikaden gegen den feindlichen Vormarsch dienten. Elyas war stolz auf diese Idee. Wenn die Russen kamen, würden sie durch ein Labyrinth aus Sperrmüll irren und sich an Straßenschildern orientieren, die Elyas höchstpersönlich in die falsche Richtung gedreht hatte.

Am Nachmittag stellte er sich mit einem Schraubenschlüssel an die Ecke der Bahnhofstraße und begann, die Schilder umzudrehen. Ein „Nach Lissabon“ zeigte jetzt in Richtung des alten Bergwerks, während „Berlin“ auf die Schnellstraße zur niederländischen Grenze wies. Elyas konnte nicht anders, als bei dem Gedanken zu grinsen, wie die Invasoren in einer Endlosschleife durch die Stadt hetzen würden, während seine Mitbürger genug Zeit hätten, sich in ihren alufolierten Wohnungen zu verstecken.

Kapitel 5: Der Sinn des Wahnsinns

Die Sonne sank langsam hinter den stillgelegten Fabriken, als Elyas zurück zu seinem kleinen Häuschen radelte. Die Stadt lag im Halbdunkel, die einzigen Geräusche kamen von den wenigen verbliebenen Menschen, die sich noch nicht in die Nacht zurückgezogen hatten. Elyas stellte sein Fahrrad ab und setzte sich auf die Treppenstufe vor seiner Haustür. „Was für ein Tag“, dachte er bei sich. „Was für ein Leben.“

Er blickte zum Himmel, der in einem schmutzigen Orange erstrahlte, und fragte sich, ob all diese Mühen wirklich notwendig waren. Ob er tatsächlich das Richtige tat, oder ob das alles nur ein großes, absurdes Spiel war. Doch bevor die Zweifel allzu laut wurden, verdrängte er sie mit einem kräftigen Schluck Schnaps. „Morgen ist auch noch ein Tag“, sagte er zu sich selbst, bevor er in sein Bett fiel und der Schlaf ihn in seine grotesken Träume entführte.

Kapitel 6: Der letzte Witz

Am nächsten Morgen brach die Sonne über der Stadt an, und Elyas war bereits wieder unterwegs. Die Straßen sahen noch genau so aus wie am Tag zuvor: leer, trostlos, bereit für den Krieg. Doch etwas war anders. Als er an der Ecke zum Rathausplatz kam, sah er ein Plakat, das über Nacht an die Wand gepinnt worden war. „Lasst euch nicht verarschen!“, stand darauf in grellen Lettern. „Wir werden gewinnen, indem wir leben, nicht indem wir sterben.“

Elyas hielt inne und starrte auf das Plakat. Ein Lachen stieg in ihm auf, ein Lachen, das er lange nicht mehr gespürt hatte. Es begann leise, doch es wurde lauter und lauter, bis es die Stille der Stadt durchbrach. Und während er dort stand und lachte, verstand Elyas endlich, dass er der größte Narr von allen war – der letzte Schelm in einer Welt, die den Verstand verloren hatte.

Epilog

Elyas Wacław, der alte Blockwart, der letzte Schelm des Ruhrgebiets, verschwand eines Tages spurlos. Einige sagten, er sei nach Lissabon gegangen, andere behaupteten, er habe sich in einem Keller mit genug Schnaps und Jodtabletten für den Rest seines Lebens eingeschlossen. Doch niemand wusste es genau.

Die Stadt blieb, wie sie war – eine Ruine im Schatten eines Krieges, der nie wirklich kam. Und das Lachen, das Elyas am Ende gefunden hatte, hallte noch lange in den leeren Straßen wider.

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Von Heinz Niski

Handwerker, nach 47 Jahren lohnabhängiger Arbeit nun Rentner. Meine Helden: Buster Keaton, Harpo Marx, Leonard Zelig.

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Reimar Menne

Zufällig verschwand der Prophet Elia auch spurlos, aber nicht wirkungslos. Ob Elyas’ Lachen Lebensgeister wecken kann?

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