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Good Morning, Gelsenkirchen

berber

9:50. GE Hbf. Es hat geregnet. Ungefähr 6 Grad. Ein Mann weckt die schlafenden Berber mit einem „So Jungens, Zeit aufzustehen“ – nicht unfreundlich, aber bestimmt. Ich weiß nichts über die Akteure. Ist der Mann ein „offizieller“ der Stadt? Einer Hilfsorganisation? Einer Bürgerwehr? Sorgt er sich? Um die Berber? Das Image der Stadt? Ich fotografiere im Vorbeigehen, habe den Kopf mit anderen Dingen voll. Verwerfe den Gedanken, ihn anzusprechen. Ich habe nichts anzubieten, außer Resignation, Ratlosigkeit, Mitgefühl für alle Protagonisten.

Ich werde zerrieben zwischen den Polen des systemischen Versagens und dass Freiheit auch bedeutet, dass man seinen Untergang frei selber bestimmen, terminieren können muss.

In meiner Jugend waren die Berber anders. Es gab weniger, eigentlich gar keine Frauen. Viele hatten einen sehr bürgerlichen Hintergrund, hatten einen Beruf, entschieden sich weniger aus einer finanziellen Notlage für das Leben auf der Platte.

Es waren meist keine angenehmen Zeitgenossen, nahmen, was sie konnten, verweigerten Gegenleistungen, die sie nicht unbedingt überfordert hätten.

Schmuddelkinder, mit dem Ruf, der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten.

Die heutige Szene scheint mir allerdings aggressiver zu sein. Alkohol mischt sich mit anderen Drogen, man lebt nicht nur in seiner Blase, fordert mehr von den „Bürgerlichen“ – die Verwahrlosung wird offener und unbefangener ausgelebt.

Eine Stunde später gehe ich durch die Bahnhofspassage. Laute Schreie. Im Aufzug steht ein stadtbekannter Berber. In Unterhosen. Die Beine zerschrammt, er schreit, fordert die Polizei an, weil er sich in seiner Freiheit beschränkt fühlt. Ein Mann, um Abstand bemüht und eine Maske vor seinem Gesicht haltend, fordert ihn auf, den Bahnhofsbereich zu verlassen.

Es war nicht erkennbar, ob es sich um einen „offiziellen“ handelte.

Wieder gehe ich vorbei, rede mir gut zu, dass eine arbeitsteilige Gesellschaft mehr Vorteile als Nachteile hat und dass die Verantwortungsdiffusion vor einer völligen Überforderung des Einzelnen schützt.

Gewiss ist, dass Armuts- und Verwahrlosungserscheinungen zunehmen werden. Hoffentlich auch die Hilfsbereitschaft der Starken für die Schwachen und die Bereitschaft, über bessere Lebensmodelle nachzudenken.

Oder?

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2 comments

Ali-Emilia PodstawaAli-Emilia Podstawa says:

Vor Wochen sah ich eine Frau. Schätzungsweise 50. Sie schob einen Einkaufswagen. Mitten durch die Fußgängerzone der Stadt. Vor sich im Drahtgeflecht die Habseligkeiten ihrer Existenz. Abgedeckt mit einer Matratze. 210 x 160. Ihr einzigverbliebenes Möbel. Ich habe sie nie mehr wieder gesehen.

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Heinz NiskiHeinz Niski says:

Nachtrag:
Am Wochenende hatte ich wieder mal ein verunglücktes Gespräch mit einer mir nahe stehenden Person aus einer Kleinstadt im Süden Deutschlands, die sehr (extrem) engagiert in der Flüchtlingshilfe ist. Er brach das Gespräch nach zwei Sätzen mit der Bemerkung ab, dass er nichts mehr von der speziellen Situation in GE wissen wolle, das hätte er zu oft schon gehört. Ihm ginge es um das grundsätzliche, das wäre, dass die deutsche Gesellschaft Zuwanderung (Flüchtlinge) braucht und dass alle integriert werden könnten, wenn sich jeder Einzelne bemühen würde. Er macht das tatsächlich bis fast zur körperlichen Erschöpfung, hat aus seiner Perspektive auch recht, da könnte mehr kommen aus der Aufnahmegesellschaft. Dass die Zuwanderer mit ihren Lebensentwürfen trotz aller Bemühungen der Aufnahmegesellschaft dennoch häufig an Grenzen stoßen, lässt er nicht gelten, geißelt das als Teufelskram, bzw. AfD Gedankengut. Verteilungskämpfe am unteren Rand der Gesellschaft nimmt er aus seiner (sehr) privilegierten Position wohl wahr, ihm fehlt aber die sinnliche Erfahrung, was es bedeutet, wenn man keine Ersparnisse hat, wenn jede Reparatur, jede noch so kleine Sonderausgabe, existenzgefährdend ist. So bleiben wir bei dem Arrangement, dass ich ihm Respekt zolle, seine Urlaubsreisen, seine jährlich mit dem Auto gefahrenen tausende von Kilometern nicht erwähne, seinem extravaganten Öko-Bio-Lifestyle applaudiere und ein bisschen ein schlechtes Gewissen habe, dass ich in meinem Umfeld auch Elend wahrnehme.
Erlebte soziale Elendserfahrungen würden ihn allenfalls intellektuell berühren, emotional kann ihn eine solche Krise nicht erreichen, da ist der Burggraben der Privilegien vor.
Warum schreibe ich das? Weil ich immer noch zu verstehen versuche, warum (heutige) Menschen es selten schaffen, eine Ungewissheitstoleranz in ihr Leben zu integrieren.
In diesem Sinne stolperte ich am Freitag durch zwei große Flächen Erbrochenem vor dem Supermarkt in meiner Nähe. Die Alkis und Drogis waren wieder am Werke. Heute klagte eine Verkäuferin dort, dass sie es Leid wäre, die Psychosen dieser Kunden über sich ergehen lassen zu müssen.
Ich konnte ihr nicht widersprechen, beobachtete dabei einen der Käufer vor mir, der wie das bekannte „Eichhörnchen auf Speed,“ dauerzappelnden Sprechdurchfall hatte.
Das bekommst du im gehobenen Bio-Laden deiner Wahl weniger mit, niemand schmaucht dort sein Crack-Pfeifchen, brabbelt Zeugs oder schimpft sich selber.
Großstadtambiente.
Wems nicht passt, der kann doch aufs Dorf ziehen.

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