5
(3)

9:50. GE Hbf. Es hat geregnet. Ungefähr 6 Grad. Ein Mann weckt die schlafenden Berber mit einem “So Jungens, Zeit aufzustehen” – nicht unfreundlich, aber bestimmt. Ich weiß nichts über die Akteure. Ist der Mann ein „offizieller“ der Stadt? Einer Hilfsorganisation? Einer Bürgerwehr? Sorgt er sich? Um die Berber? Das Image der Stadt? Ich fotografiere im Vorbeigehen, habe den Kopf mit anderen Dingen voll. Verwerfe den Gedanken, ihn anzusprechen. Ich habe nichts anzubieten, außer Resignation, Ratlosigkeit, Mitgefühl für alle Protagonisten.

Ich werde zerrieben zwischen den Polen des systemischen Versagens und dass Freiheit auch bedeutet, dass man seinen Untergang frei selber bestimmen, terminieren können muss.

In meiner Jugend waren die Berber anders. Es gab weniger, eigentlich gar keine Frauen. Viele hatten einen sehr bürgerlichen Hintergrund, hatten einen Beruf, entschieden sich weniger aus einer finanziellen Notlage für das Leben auf der Platte.

Es waren meist keine angenehmen Zeitgenossen, nahmen, was sie konnten, verweigerten Gegenleistungen, die sie nicht unbedingt überfordert hätten.

Schmuddelkinder, mit dem Ruf, der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten.

Die heutige Szene scheint mir allerdings aggressiver zu sein. Alkohol mischt sich mit anderen Drogen, man lebt nicht nur in seiner Blase, fordert mehr von den „Bürgerlichen“ – die Verwahrlosung wird offener und unbefangener ausgelebt.

Eine Stunde später gehe ich durch die Bahnhofspassage. Laute Schreie. Im Aufzug steht ein stadtbekannter Berber. In Unterhosen. Die Beine zerschrammt, er schreit, fordert die Polizei an, weil er sich in seiner Freiheit beschränkt fühlt. Ein Mann, um Abstand bemüht und eine Maske vor seinem Gesicht haltend, fordert ihn auf, den Bahnhofsbereich zu verlassen.

Es war nicht erkennbar, ob es sich um einen „offiziellen“ handelte.

Wieder gehe ich vorbei, rede mir gut zu, dass eine arbeitsteilige Gesellschaft mehr Vorteile als Nachteile hat und dass die Verantwortungsdiffusion vor einer völligen Überforderung des Einzelnen schützt.

Gewiss ist, dass Armuts- und Verwahrlosungserscheinungen zunehmen werden. Hoffentlich auch die Hilfsbereitschaft der Starken für die Schwachen und die Bereitschaft, über bessere Lebensmodelle nachzudenken.

Oder?

Wie inspirierend, erhellend, unterhaltend war dieser Beitrag?

Klicke auf die "Daumen Hoch" um zu bewerten!

Durchschnittliche Bewertung 5 / 5. Anzahl Bewertungen: 3

Bisher keine Bewertungen! Sei der Erste, der diesen Beitrag bewertet.

Weil du diesen Beitrag inspirierend fandest...

Folge uns in sozialen Netzwerken!

Es tut uns leid, dass der Beitrag dich verärgert hat!

Was stimmt an Inhalt oder Form nicht?

Was sollten wir ergänzen, welche Sicht ist die bessere?

Von Heinz Niski

Handwerker, nach 47 Jahren lohnabhängiger Arbeit nun Rentner. Meine Helden: Buster Keaton, Harpo Marx, Leonard Zelig.

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest
Meine Daten entsprechend der DSGVO speichern
2 Kommentare
Oldest
Newest
Inline Feedbacks
View all comments
Ali-Emilia Podstawa

Vor Wochen sah ich eine Frau. Schätzungsweise 50. Sie schob einen Einkaufswagen. Mitten durch die Fußgängerzone der Stadt. Vor sich im Drahtgeflecht die Habseligkeiten ihrer Existenz. Abgedeckt mit einer Matratze. 210 x 160. Ihr einzigverbliebenes Möbel. Ich habe sie nie mehr wieder gesehen.

0
0