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„Putin schickt Abertausende Truppen, nimmt große Verluste
hin. Was Russland an Qualität fehlt, versucht es quantitativ
auszugleichen.“
Jens Stoltenberg, NATO-Generalsekretär *

Mit seiner Einschätzung zur Kriegsführung der russischen Armee im Krieg gegen die Ukraine knüpft Jens Stoltenberg historisch an den 1. und 2. Weltkrieg an. In zahlreichen Werken zur Kriegsführung der Russen in den beiden Weltkriegen wird von unterschiedlichen westlichen, aber auch russischen Historikern und Forschern immer wieder darauf hingewiesen, dass die russische Armee bereit war, unter großen Opfern Etappenziele im Krieg zu erreichen. Besonders in der Ära nach Stalin haben Autoren in Russland darauf hingewiesen, dass der rücksichtslose Einsatz auf Befehl der russischen Offiziere neben der Brutalität der Kriegsführung durch die deutsche Wehrmacht eine der Hauptursachen für die vielen Toten, die die russische Armee zu verzeichnen hatte, war. In der Abrechnung mit Stalin (20.Parteitag der KPdSU im Februar 1956) führte Chruschtschow u.a. aus, dass die von Stalin angeordnete Strategie der „ständigen Frontalangriffe“ eine der Ursachen für hohe Verluste war. Berthold Seewald schreibt in einem Beitrag in der „Welt“ dazu:
„In den 90er-Jahren, als Stalins Stern für einige Jahre verblasste, gingen jüngere russische Historiker noch weiter. Sie argumentierten mit den außerordentlichen Verlusten, die die sowjetischen Truppen nach den Siegen von Stalingrad und Kursk erlitten. So verlor die Rote Armee in den fünf sogenannten Autobahnschlachten, die zwischen Oktober 1943 und März 1944 in Weißrussland geschlagen wurden, trotz drückender Überlegenheit mehr als eine halbe Million Soldaten. Dennoch gelang kein Durchbruch, die deutschen Verluste betrugen ein Zehntel. Nicht umsonst wurden diese Kämpfe in der offiziellen sowjetischen Historiografie weitgehend totgeschwiegen.“***
Berichte von der Front des gegenwärtigen Krieges sprechen immer wieder davon, dass russische Soldaten in Wellen diese „Frontalangriffe“ ausführen und es deshalb zu hohen Verlusten auf Seiten der russischen Armee kommt, wobei die eingesetzten Soldaten wohl häufig weniger gut ausgebildet, kaum taktisch geschult und zudem schlecht ausgerüstet sind. Darauf hebt Jens Stoltenberg in seinem Zitat ab. Unausgesprochen schwingt mit, dass die zahlenmäßig weit unterlegene ukrainische Armee dieser Kriegsführung nur standhalten kann, wenn ihre zahlenmäßige Unterlegenheit durch die neuen und technisch hochwertigen „westlichen Waffen“ kompensiert werden kann. Dies ist die Ursache für das propagandistische Trommelfeuer, das zu immer mehr und größeren Waffenlieferungen und zur Entsendung weiterer Waffensysteme aufruft.
In diesem Kontext geht verloren, dass auch die ukrainische Seite einen hohen Blutzoll leistet und dass die Auswirkungen des Krieges, dessen Beginn sich in wenigen Tagen jährt, in jeder Hinsicht immens sind. Die Nachrichtenagentur „reuters“ aktualisiert täglich ausgewählte Daten, soweit sie zur Verfügung stehen. Unter dem 13.2.23 meldet die Agentur folgende Zahlen:
Todesfälle: mindestens 42295 Menschen
Nicht tödliche Verletzungen: mindestens 56 756 Menschen
Vermisst: Mindestens 15000 Menschen
Geflüchtet: ca . 14 Millionen Menschen
Zerstörte Gebäude: Mindestens 140 000
Eigentumsschäden: in Höhe von mindestens 350 Milliarden US-Dollar
Diese Schäden und Verluste, die Toten und Geflüchteten sind eine Folge davon, dass sich die russische Seite nicht auf die gegenwärtige Front auf dem Schlachtfeld bzw. den Schlachtfeldern beschränkt, sondern auch systematisch die Ukraine, ihre Infrastruktur und die Bevölkerung attackiert. Hier ist die ukrainische Seite lediglich in der Lage, den Schaden möglichst gering zu halten (Luftabwehr). Auch dabei ist sie ohne westliche Unterstützung nur sehr eingeschränkt handlungsfähig. Schon gar nicht ist die ukrainische Seite ihrerseits in der Lage, Angriffe auf das russische Territorium dauerhaft siegreich zu führen – es sei den mit Unterstützung durch Waffensysteme der NATO, was aber wohl den endgültigen Schritt in einen Dritten Weltkrieg bedeuten würde.
Sieht man die Lage ein Jahr nach Beginn des Krieges durch Russland realistisch, kommt man, wenn man sich nicht Selbsttäuschungen und eigenen Wunschvorstellungen hingibt, zu folgenden Ergebnissen – ob sie einem selbst nun schmecken oder nicht:An der militärischen Front (Donbas etc., siehe unten) gibt es einen „Stellungskrieg“, der keiner Seite entscheidende Fortschritte bringt, trotz etlicher „Geländegewinne“ der einen oder anderen Seite. Im Moment scheint die ukrainische Armee dort eher in der Defensive zu sein. Die vollständige Einnahme Bachmuts zum Jahrestag des Beginns des Angriffskrieges wird ein symbolisches Ziel Putins zu sein:

„Ukrainische und russische Truppen stehen sich dort seit sieben Monaten gegenüber; es ist die längste Konfrontation seit Beginn des Krieges am 24. Februar. Obwohl die Stadt längst in Schutt und Asche liegt, verstärken beide Seiten ihre Truppen in Bachmut, um das Patt zu beenden. Der Kreml will nach vielen Rückschlägen seinen ersten bedeutenden Sieg erringen, die Ukraine will die Stellung halten.“****
Besteht an der militärischen Front eine Art „Patt-Situation“ (Bachmut als das VERDUN des Krieges), geht die Zerstörung der Ukraine unablässig weiter. Wenn jetzt immer wieder zu lesen und zu hören ist, aus der Ukraine, aber eben auch in den heimischen Medien und seitens der deutschen (und anderer westlicher) Politiker, der Krieg müsse bis zum vollständigen Sieg der Ukraine geführt werden, so ist das bar jeder militärischen Aussicht, denn das bedeutete einen vollständigen russischen Rückzug von allen besetzten Gebieten (einschließlich der Krim) und letztlich auch so etwas wie eine Kapitulation. Das bedürfte schon eines politischen Erdbebens in Moskau, das eine völlig anders orientierte Regierung an die Spitze des Staates brächte. Die „ Wir-kämpfen-bis-zum-Sieg“-Zielvorgabe ist vielmehr nichts anderes als ein Mangel an Fähigkeit oder Bereitschaft, politische Lösungen des Konflikts zu suchen. Dass die ukrainische Armee die völkerrechtswidrig durch Russland besetzen Gebiete einschließlich der Krim militärisch zurückerobert, ist ein Schlaftrunk für bunte Träume. Ein Schlaftrunk, den man propagandistisch löffelweise verabreicht und durch Meldungen vom Sieg der ukrainischen Streitkräfte geschmacklich aufhübscht. Ein zynischer Trank!
Wer sagt, man könne und dürfe mit Putin nicht verhandeln, behauptet eine völlig illusorische Schlachtfeld-Sieg-Option und verdeckt nur die eigene Unfähigkeit oder den Unwillen, politische Lösungswege zu versuchen bzw. zu suchen. Dahinter steht nichts anderes als eine Diskursverweigerungsstrategie, wie sie auch in der innerdeutschen Auseinandersetzung zu finden ist, wenn die Bellizisten aus dem Austausch von Argumenten aussteigen und mit einer Moralkeule um sich schlagen, mit der man auf alle eindrischt, die dem Chor der „mehr-Waffen-Rufer“ nicht beitreten. Da ist von „Auschwitz-Vergleichen“ bis „Völkermörder-Rhetorik“ und „Putin- Agenten“-Bezeichnungen  alles im Köcher mit vergifteten Pfeilen.Manchmal kann man den Eindruck haben, da müssen sich einige das schlechte Gewissen erleichtern, weil sie jahrelang so bequem und preiswert mit russischem Öl und Gas gefahren sind und geheizt haben, weswegen jetzt Verhandlungen mit Russland und seinem „Führer“ ausgeschlossen werden.

Was aber soll kommen, wenn der Krieg, so oder so, irgendwann einmal beendet ist? Ein permanenter kalter Krieg mit Russland? Oder meint man, nach Putin käme ein zweiter „Gorbi“ an die Macht? Was liegt also hinter dem Horizont des Schlachtfeldes in der Ukraine? Ein anderer, noch größerer Gegner, dem wir uns ebenfalls ausgeliefert haben, weil er so lange so preiswert unsere Kleider und unsere Microchips hergestellt hat?
Vielleicht sitzen die apokalyptischen Reiter schon lange nicht mehr auf Pferden, sondern kreuzen  längst in Atom-U-Booten vor unseren Küsten!
*WAZ, 14.2.2023
*** https://www.welt.de/geschichte/zweiter-weltkrieg/article117976280/Legenden-um-die-groesste-Panzerschlacht-aller-Zeiten.htm
**** https://www.fr.de/politik/ukraine-krieg-news-bachmut-blutiger-kampf-ukrainische-russische-soldaten-kaempfen-wie-in-verdun-92086220.html

Hinweis: Donbas (ukrainisch)_Donbass (russisch)

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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tho.ris.

Danke für diesen Artikel. So kann ich ein wenig Luftholen, bevor mir die zahllosen Zum-Krieg-Gibt-Es-Keine-Alternative-Beiträge wieder den Atem rauben.

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