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Ich schreibe diesen Text rund zwei Stunden vor dem Finale. Wer Weltmeister wird? Keine Ahnung. Wir werden es am späten Nachmittag wissen. Warum jetzt also noch raten. Mein Wunsch ist allerdings, dass Argentinien nicht gewinnt. Was aber nicht heißt, dass ich mir einen französischen Sieg wünsche. Mein Wunsch ist ausschließlich literarischer Natur. Als großer Freund des antiken Theaters des fünften vorchristlichen Jahrhunderts möchte ich die Tragödie. Und die Tragödie kann nur die sein, dass ein ganz Großer, Messi also, der wohl seine letzte WM spielt, ein Unvollendeter bleibt. Deshalb muss er scheitern, weil er ein ganz großer ist – nicht obwohl! Würde Argentinien gewinnen, wäre es ein zu billiges Happy End. Aber ein König, der bei der Krönungsmesse noch scheitert,  das ist – in dramatischer und dramaturgischer Hinsicht – eine Wucht! Vergleichbar mit der 4-Minuten-Meisterschaft der Schalker! Drama, Baby, Drama! Und vielleicht wird Messis 11 Jahre jüngerer Vereinskollege Mbappé in diesem Stück auf der Treppe zum Thron zum Königsmörder!

Und ansonsten: Der Fußball ist und bleibt, jenseits des Milliardengeschäfts, was er von Anfang im Kern war – ein im Grunde einfaches Spiel, bei dem, wenn zwei Mannschaften daraus ein Kunstwerk machen, Großartiges entstehen kann von ganz eigener Faszination. Das muss man als Voraussetzung nehmen, wenn man Fußball mit einem theoretischen Überbau ausstattet, der im Spiel mit dem Ball mehr sieht als einen Sport!

Am Samstag (17.12.22) hat Lena Bopp in der Frankfurter Allgemeinen den palästinensischen Autor Mahmoud Darwish zitiert, der zum Fußballspiel sagt:  „Das Spiel stellt eine Atempause dar, die einem zersplitterten Heimatland die Möglichkeit gibt, sich um etwas Gemeinsames zu versammeln, einen Konsens, bei dem für jede Mannschaft die Grenzen und die Bedingungen der Beziehung klar definiert sind, was auch immer für schlaue Andeutungen durchschlüpfen und was für verdrängte Bedeutungen die Zuschauer auf das Spiel projizieren mögen.“ Darwish, der übrigens das Spiel als eine Möglichkeit der „geheime (n) Übereinkunft zwischen Herrschern und Beherrschten in der Gefängniszelle der arabischen Demokratie“ sieht, beschreibt hier etwas in den Wochen der WM zu Beobachtendes: Die arabische Welt ist mit sich uneins, teilweise sind sich die Staaten spinnefeind. Auch in religiöser Hinsicht, also der Auslegung des Koran, gibt es deutliche theoretische Differenzen, aber auch Unterschiede in der praktischen Anwendung im Alltag. Aber nun hat sich im Laufe des Turniers die arabische Welt spätestens seit dem Viertelfinale hinter der marokkanischen Mannschaft versammelt, die die „großen“ Fußballnationen der (westlichen) Welt herausgefordert hat und, ganz unabhängig vom Scheitern im Spiel um den dritten Platz, eine großartige Leistung gezeigt hat.

Ähnliches ist auch in Frankreich zu sehen, in dem immer wieder, in Paris und anderen Großstädten, Konflikte gewalttätig aufflammen, die Menschen aus den Banlieues, zu großen Teilen Immigranten aus den ehemaligen französischen Kolonien, sich aber nun hinter „ihrer“ Mannschaft versammeln. Aus den Feuern der Barrikaden werden Freudenfeuer!

Momentaufnahmen – eben eine Atempause zwischen den Auseinandersetzungen aufgrund der ungelösten Konflikte!

Und Deutschland? Hier bot die Mannschaft kein Lagerfeuer an, um das man sich hätte versammeln können. Wenn sich hier etwas am Fußballspiel zeigen ließe, dann dass der deutsche Fußball nicht mehr weltmeisterlich ist, wie auch das Land selbst wenig meisterlich daherkommt. Spott und Häme wurden über das Fußballspiel der Nationalelf ausgeschüttet, deren Spielweise genauso halbherzig, hasenfüßig und hilflos wirkte wie das politische Geklimper, die verrutschte Hand-vor-den-Mund-Geste und die jämmerlichen Pressestatements. Und so ist es auch mit dem Land: Viele große Sprüche und Ansprüche, denen man aber nicht gerecht wird. Deutschland wird nicht mehr ernstgenommen (niemand folgt uns z.B. in der Energiepolitik), auch wenn man als Netto-Zahler natürlich gerne gebraucht wird.Der WM-Gewinn von 1954 wurde als Symbol für den wirtschaftlichen Wiederaufstieg Deutschlands, die Rückkehr in den Kreis der demokratischen Nationen und den Aufbruch in eine neue Zeit gedeutet. Aber wofür steht  das Ausscheiden in der Gruppenphase dieser WM?

Mit Giovanni Trapattoni vielleicht für: „Flasche leer“!

Noch rund eine Stunde bis zum Anstoß!

ALLEZ LES BLEUS!

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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Ali-Emilia Podstawa

Bestes WM-Finale aller Zeiten! Die Italospanier besiegen Afrika. Glückwunsch!

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M.A.

Welch ein furioses WM-Finale: Lust am Spiel und hungrig auf den Sieg. 
Zum Trost: Deutschland ist immerhin Weltmeister der Doppelmoral.

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Mi.Rob.

Tolle WM, habe ich gerne geguckt.
Wäre schön, wenn die Boykottierer es unterlassen hätten, auch noch politische Botschaften zur Überbringung an die NM heranzutragen.

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