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„Ich klage die Verallgemeinerung zu Gruppenphänomenen an, mit der Politik angeschwärzt wird, statt die Probleme auf der Rechtsbene (sic!) zu lassen, wo sie hingehören.“

Klebriges Flugblatt, Gelsenkirchen, Oktober 2022, Foto: Privat

Die obige Aussage findet sich in den Kommentaren zu diesem Blogbeitrag. Der Satz klingt gut und leuchtet zunächst jedem ein, der einigermaßen geradeaus denken kann. Wir könnten diesen Gedanken als Schlusswort einer ausufernden Debatte einfach so stehen lassen – oder fragen, was mit „Verallgemeinerung von Gruppenphänomenen“ überhaupt gemeint sein könnte – und ob wir es nicht eher mit einem Wahrnehmungsproblem zu tun haben.

Die schönste Nebensache der Welt

Dass am letzten Wochenende in Bochum beim Fußballspiel Phönix gegen Kurdistan nach Spielschluss der Spielleiter mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert wurde, ist wohl kein Gruppenphänomen, die WAZ berichtete. Die Fahndung der Polizei nach einem als korpulent beschriebenen Zuschauer, ca. 30 Jahre alt, mit kurzen, schwarzen Haaren, hätte auch einer vollkommen anderen Person gelten können. Weitere Angriffe auf den Schiedsrichter wurden nach Augenzeugenberichten von dem 60jährigen Trainer der Gästemannschaft ausgeführt. Dessen Informationen hinsichtlich der geltenden Gesetzeslage, was den Einsatz von Fäusten gegen Referees zur Vergeltung von etwaigen Rechtsbeugungen im Rahmen eines Fußballspiels betrifft, könnten veraltet gewesen sein. Ein Kommunikationsproblem.

Individualisierung von Gruppenmitgliedern zu Einzelfällen

Im Kicker ist die Bilanz des letzten Fußballwochenendes in den unteren Spielklassen nachzulesen. Der Vorfall aus Bochum und weitere. https://www.kicker.de/schiedsrichter-nach-bezirksliga-spiel-angegriffen-und-schwer-verletzt-922737/artikel Laut nachzudenken über mögliche Ursachen und Zusammenhänge für Rechtsbrüche dieser und ähnlicher Art, bitte unterlassen! Diese Meinung findet sich in einem der weiteren Kommentare zu jenem Blogbeitrag. Es sei denn, man hätte Studien als Diskussionsgrundlage vorzuweisen, in denen Gruppenphänomene wissenschaftlich untersucht wurden. Feine Ironie.

Erst Studien dann Wahrnehmung

Starten wir das Studiendesign mit Frage 1: „Ist das Faustrecht nach oder während Fußballspielen kompatibel mit dem geltenden deutschen und europäischen Recht – ja oder nein?“ Nur wenn die Antwort der Gruppenmitglieder mehrheitlich – oder besser ausschließlich – „ja“ heißt, wäre es für Lautdenker und Blogvolltipper zulässig, in der Öffentlichkeit eine Arbeitshypothese aufzustellen, dass die untersuchte Gruppe als Einfluss ausübend auf Rechtsverstöße einzelner Gruppenmitglieder in Betracht gezogen werden könnte. Welcher Grundwert, welches ungeschriebene Gesetz innerhalb der Gruppe die Antwort maßgeblich beeinflusst hat, bliebe (noch) offen. Die Fragen 2 bis 456 könnten sich damit befassen. So entstünde ein wunderbares Forschungswerk, in dessen Endergebnis „toxische Männlichkeit“ als Kern des Problems vorausgesetzt werden kann. Die Schweizer scheinen bereits Belege dafür zu sammeln: Beleg, noch ein Beleg.

Politik nicht ursächlich – Studienlage dünn

Damit kommen wir zu den miteinander raufenden Schülern an der Hauptschule in Schalke unter Einbeziehung des kommunalen Ordnungsdienstes.

Was man auch ohne Studien sicher weiß: Schüler sind vor allem Schüler, also Lernende, denen das Rechtsstaatprinzip als Fundament unserer Gesellschaftsordnung nicht in die Wiege gelegt wurde. Ihnen kann dieses Prinzip nur kleinschrittig und bedürfnisorientiert nahegebracht werden. Niemand soll überfordert werden.

Wenn nun Schüler in ihrer Schule Besuch von in etwa gleichaltrigen Weitgereisten bekommen, die gerade nicht zur Schule gehen, aber ihr Frühstücksbesteck immer dabeihaben, dann besuchen Schüler, die sich der Schulpflicht entzogen haben, Schüler, die der Schulpflicht nachkommen. Rechtlich ist die Lage damit klar. Gegessen werden darf nur in den Pausen. Ein gewaltsamer Konflikt mit Esswerkzeugen unter Schülern ist im Regelwerk an dieser Stelle gar nicht vorgesehen.

Es spricht aufgrund der dünnen Studienlage nichts dafür, dass politische Entscheidungen aus der Vergangenheit und Gegenwart mit diesem Alltagsphänomen in Verbindung gebracht oder gar kausal miteinander verknüpft werden könnten.

Alles geregelt

Ämter sorgen auf der Rechtsebene dafür, dass alle Halbwüchsigen darüber benachrichtigt werden, dass sie zur Schule gehen müssen. Check!

Pädagogen und Sozialarbeiter bringen in den Schulen der Schülerschaft das hiesige Rechtsverständnis bei – notfalls auch gegen den Widerstand der in der Schule auftauchenden nahen Verwandten. Check!

Die Schulordnung regelt den Gebrauch von Messer, Schere, Gabel, Licht. Check!

Damit ist das Problem vollständig adressiert und befindet sich in der Politik längst auf der Liste der erledigten Aufgaben.

Verallgemeinertes Gruppenphänomen

Gelsenkirchen ist von einer speziellen, auf europäischer Ebene geschaffenen, Zuwanderungsmöglichkeit betroffen, die einzelne Stadtteile und ihre Schulen überfordert. „Offene Daten Gelsenkirchen“ zeigen das Problem, wenn die Zahlen visualisiert werden.

Quelle: Offene Daten Gelsenkirchen – Gesamtbevölkerung nach deutscher Staatsangehörigkeit und Alter auf Ebene der Stadtteile (vierteljährlich) https://opendata.gelsenkirchen.de/dataset/gesamtbevoelkerung-nach-deutscher-staatsangehoerigkeit-und-alter-auf-ebene-der-stadtteile-0#

Das ist, aus globaler Perspektive betrachtet, natürlich ein Luxusproblem. Ein bedeutungsloser Einzelfall. Einzelfälle zu betrachten ist grundsätzlich nicht Aufgabe der Politik. Es geht Politik um viel mehr. Es geht um das große Ganze.

Fazit

Politik anzuklagen, ist unzulässig („anzuschwärzen“ ist ein rassistischer Ausdruck, den wir alle nicht mehr verwenden wollen). Denn selbst wenn Politik Weichen gestellt und dadurch Entwicklungen ermöglicht hat, die nur auf oberster politischer Entscheidungsebene wieder korrigiert werden könnten, wen interessieren Einzelfälle wie die Stadt Gelsenkirchen und ihre Unvollkommenheiten? Also frag nicht, was Politik für dich tun kann. Frag lieber, was du für die Politik tun kannst. Bring das Alltagsgeschehen nicht mit politischen Entscheidungen in Verbindung. Und bitte keine Verallgemeinerung zu Gruppenphänomenen.

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Gelsenkirchen-Fan, Schreiberling*in, Nicht-Binär, Teil-Analog

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Heinz Niski

Man könnte sich auch natürlich fragen, wie viele Fußballspiele mit friedlichem Ausgang es Woche für Woche gibt.
Wie viele friedliche Pausen auf dem Schulhof Tag für Tag stattfinden.
Wie viele Morde nicht stattfinden. Wie viele Unfalltote es nicht gibt. Wie viele Regelverletzungen, Rechtsbrüche, Ungerechtigkeiten nicht begangen werden, wie viel Hass nicht ausgelebt wird.
Stattdessen wird hier kleinlich auf die Ausnahme fokussiert, werden gar zwischen den Zeilen Anstöße gegeben, um diese wenigen Ausnahmen noch mehr zu marginalisieren. Ob das dem friedlichen Zusammenleben aller dienlich ist?
Wer kann das wissen……..

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noname

Die Skandalisierung greift um sich, nun auch in Kleinstädten.

https://ruhrkanal.news/4-kinder-greifen-spaziergaenger-an/

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Reimar Menne

Ein gründlicher Beitrag, um deutlich zu machen, dass es Probleme auch mit Zuwanderern gibt, und auch besonders in der armen Stadt Gelsenkirchen. Offensichtlich inspiriert von der Überzeugung, dass das Schulhofereignis doch Bedeutung über individuelles und bandenmäßiges Fehlverhalten und dessen Wahrnehmung in der Öffentlichkeit hinaus habe. Aber das Licht leuchtet knapp neben die Stelle, an der die Gerüche aufsteigen:
„Fazit – Politik anzuklagen, ist unzulässig“, wohl nicht. Aber es ist natürlich wenig fruchtbar und fragwürdig, wenn das Anklagen sich so sehr wiederholt, als wäre es die Hauptlebensaufgabe des Anklägers. Und es ist obendrein anrüchig, wenn es sich demagogischer Mittel bedient. Daher bleibt die Frage, die nie in diesem Magazin beantwortet wird: Was soll denn genau geschehen, um die Probleme zu lösen? Ist die Anwendung des Rechts uninteressant, unwirksam, lächerlich? Da wird in der Polemik Kritik zu Beleidigung, Bitte um Differenzierung zu Pauschalentlastung von Tätergruppen umgedeutet, aber bei der Suche nach Lösungsideen ist der Leser auf die Alternativen angweisen, was selbstverständlich niemand so gemeint hat.
Die politische Karawane der Integration zieht weiter, ist leidlich ausgerüstet für kommende Nöte mit Sandsturm und Räubern, und am Wegesrand stehen die, die am liebsten zurückbleiben, und spotten, dass das der falsche Weg ist, dass der sicher in die Wüste führt, dass dumme Führer die Karawane falsch führen,so laut dass man schon glauben könnte, dass sie das Scheitern brauchen um wenigstens Recht zu behalten. Aber, ich bin zuversichtlich: Die Karawane wird trotzdem weiterziehen und ihr Ziel verfolgen und dabei versuchen, alle mitzunehmen, auch die Nörgler; denn wo sollten sie auch sonst bleiben.

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Heinz Niski

Lieber Herr Menne, entkleide ich Ihren Text von den Sprachbildern, bleibt eine dramatische Verklärung der seit Jahrzehnten bewegungslosen Politik in Einwanderungs- Asyl- Integrations- und Freizügigkeitsfragen.
Sie wissen so wie die anderen Autoren hier, dass die deutsche Politik das schmutzige Geschäft gerne anderen überträgt und dann wegschaut. Es werden Deals mit Erdogan gemacht, libysche Warlords dafür bezahlt, dass sie Boote mit Flüchtlingen und Zuwanderern auf hoher See versenken oder zurückschleppen, um die Menschen wie Sklaven zu halten, zu foltern, Lösegeld zu erpressen.
Auch die feministische, Werte geleitete Außenpolitik Frau Baerbocks hat nichts daran geändert, im Gegenteil, es werden Dutzende Asylsuchende und Zuwanderungswillige in Marokko (Ceuta / Melilla) erschossen.
Sie klagen einerseits die Autoren an, rechtsstaatliche Prinzipien lächerlich zu machen, als uninteressant, unwirksam zu sehen und werfen ihnen gleichzeitig vor, dass sie die Einhaltung dieser Prinzipien fordern, dass ihnen nichts anderes als ordnungspolitische Lösungen einfallen, schlimmer noch, dass sie möglicherweise eine Affinität zu Gewaltlösungen wie im Dritten Reich hätten.
Mag sein, dass an Grenzen der Polemik gekratzt wird, dass Konflikte pointiert beschrieben werden, mir ist allerdings nicht bekannt, dass in diesem Magazin die andere Sicht, andere Autoren, Kommentatoren, in die Nähe von Verbrechern an der Menschlichkeit geschrieben wurden.
Sie werfen den Autoren vor, obsessiv Probleme und Konflikte zu beschreiben oder zu suchen, statt Lösungen anzubieten oder Integration zu leben.
Vielleicht täte hier ein Perspektivwechsel gut.
Unbestreitbar gibt es Xenophobie, Fremdenangst, Fremdenhass überall auf der Welt und in allen Gesellschaften und auch politische Organisationen, die diese Mechanismen für sich funktionalisieren.
Statt die konkreten, realen Ängste aufzugreifen, auch die imaginierten Konflikte ernst zu nehmen, wurden und werden Menschen, die nicht polyglott genug sind, keine sozialen, finanziellen, kulturellen Mittel haben, um den Konfliktzonen auszuweichen, als tumbe Rassisten und Nazis gelabelt.
Neuester Auswuchs dieser Ideologie ist die Zuschreibung Sahra Wagenknechts, Nationalbolschiwistisch zu sein.
Wie steht es nun um die Herrkules Autoren? Nehmen wir Bernd Matzkowski.
Multikulturelle Familie, best Buddys der Kinder sind people of color, davon einige tief schwarz. Er selber hat lange als graswurzelnder Fussballtrainer integrativ mit multikulturellen und multireligiösen Kindern und Eltern gearbeitet. Die Lebensumstände und die Lebenspraxis sprechen also dafür, dass er „Lösungen“ lebt und nicht nörgelnd darauf wartet, von der Karawane mitgenommen zu werden.
Welche weiteren Ansprüche können an ihn adressiert werden?
Es ermüdet, seit Jahrzehnten mit dem Thema Assimilation, Integration konfrontiert zu werden und mit den immer gleichen Lebenslügen beschäftigt zu werden.
Sie haben die Entwicklungsgeschichte der Menschheit auf Ihrer Seite, wenn Sie feststellen, dass die Karawane der „politischen Integration“ weiter zieht.
Die Neandertaler haben das als Gruppe, als Individuen nicht überlebt, aber ein paar Gene von ihnen wurden integriert.
Sie sehen das „Große Ganze“ – ich sehe die konkreten Nöte und Ängste , Einzelschicksale der Menschen.
Ich kann nur mutmaßen, glaube aber, dass Sie die freie Selbstbestimmung von Männern und Frauen, selbst reflexive Individuen patriarchalen Gruppenstrukturen vorziehen. Integration würde in diesem Fall für viele Assimilation bedeuten, also Aufgabe ihrer bisherigen Identität.
Manche könnten das als Kulturimperialismus sehen.
Wie lösen wir das alles nun? Ihre Anwürfe, dass Herrkules spaltet, statt versöhnt?
Mein Gefühl, dass Sie Botschaft, Überbringer und Form nicht trennen?
Können wir uns zunächst einigen, dass wir (inhaltlich) Gegner, aber keine Feinde sind?

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Bernd Matzkowski

@r.menne: wegen der Karawane hier der Text dazu (Auszug)

Die Karawane zieht weiter
Mach mir nen, mach mir nen, mach mir nen klaren
Mach mir nen, mach mir nen, mach mir nen klaren

Haben wir nicht, haben wir nicht, haben wir nicht
Haben wir nicht, haben wir nicht, haben wir nicht

Oh jeh! So ein Scheiß, so ein Scheiß so ein Scheiß
Oh jeh! So ein Scheiß, so ein Scheiß so ein Scheiß

Geh′n wir in ne andere Kaschämme! Schämmm
Geh’n wir in ne andere Kaschämme

Die Karawane zieht weiter, der Sultan hat Durst
Der Sultan hat Durst! Der Sultan hat Durst
Die Karawane zieht weiter, der Sultan hat Durst
Der Sultan, der Sultan der hat Durst

Und ansonsten: Die Schüler an der „Hauptschule an der Grillostraße“ geben durchweg positive Rückmeldung über die Stunden mit Ihnen, wie ich gehört habe. Einige waren wohl total überrascht, dass ein alter weiß Mann so „cool“ sein kann.
Das freut mich für Sie! Weiter so!

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Bernd Matzkowski

link zum video Die Karawane..(Die Höhner“):
https://www.youtube.com/watch?v=3ZrVVtJRoJk

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will keinen ärger

WAZ 31.10.2022, 16:09 | Lesedauer: 3 Minuten Matthias Schübel Herne. Nach dem Spiel zwischen dem SC Constantin und RWT Herne II wird der Referee von einem Zuschauer attackiert. Schiedsrichter erstattet Anzeige. RWT = Rot Weiß Türkspor.

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