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Die Bild- und Tonqualität ist miserabel. Die Tonspur verschoben. Diese ungeschnittenen VHS-Video Aufnahmen sind als Zeitdokument vielleicht trotzdem sehenswert.

Bahnhofstraße Gelsenkirchen vor 40 Jahren. Als damaliger Kameramann habe ich sowohl den selektiven Blick durch das Objektiv in Erinnerung, wie auch die Gesamtatmosphäre.

Prinz Heinrich Mützen und lila Schlabberlook waren augenfällige Gegensatzpaare, dennoch respektierte man sich irgendwie, auch wenn die einen die anderen nicht wirklich verstanden und die anderen auf die einen manchmal naserümpfend, manchmal anbiedernd heruntersahen.

Große Änderungen lagen in der Luft, Zeitenwende I, Kulturkampf, die „geistig moralische Wende“. Technische Revolutionen kündigten sich an, gesellschaftliche Umbrüche.

Mag sein, dass ich, getrübt durch Erinnerungsoptimismus, diese Zeit, trotz der auch damals vorhandenen Widersprüche und Konflikte, als „Aufbruch“ empfunden habe.

Man redete, stritt miteinander. Man „flanierte“, zeigte sich, lästerte über die Stadt, die toter als der Friedhof New Yorks wäre, hatte seine kleinen Fluchten in Nachbarstädte, aber auch die eher proletarische Kneipen- und Kulturszene südlich des Kanals, während nördlich die Vorläufer der Hippster Szene an verbotenen Drogen naschten.

Man mag es nicht glauben, aber es brodelte politisch, kulturell inmitten der gerade untergehenden Bergmanns- und Industriearbeiterkultur. Die Frauen von Foto Heinze probten den Aufstand, die Marxistisch-Leninistische Linke sah in Gelsenkirchen den Nabel der Weltrevolution, die Grünen waren bis über die Schmerzgrenze hinaus „Divers“ und noch nicht komplett gekapert von verbeamteten Lehrern, Ministerialdirigenten, abgebrochenen Theaterwissenschaftlern. Die SPD glaubte noch fest an Betonsanierung und Wachstum, während die Stadtflucht längst im Gange war.

Vergleicht man die Kleidung, das Aussehen, die Ausstrahlung der Menschen mit einem heutigen Gang über die Bahnhofstraße, liegen Welten dazwischen. Es ist hektischer geworden, „robuster“, fremder. Es gibt keine gemeinsame Sprache mehr, die Lebensentwürfe sind heterogener, die kulturellen, religiösen, sozialen und politischen Hintergründe unendlich vielfältiger, als in den 80er Jahren.

 

Gelsenkirchen 05. März 1983, Bahnhofstraße.

Letzter Tag des Wahlkampfes.

Die Bundestagswahl am 6. März 1983 war die erste Bundestagswahl nach der Wahl Helmut Kohls zum Bundeskanzler. Noch bei der Bundestagswahl 1980 wurde die sozialliberale Koalition unter Bundeskanzler Helmut Schmidt bestätigt. Im Jahr 1982 zerbrach die Koalition vor allem an Fragen der Wirtschaftspolitik.

Die FDP wechselte die Seiten und damit den Koalitionspartner. Am 1. Oktober 1982 wurde Helmut Schmidt vom Bundestag durch ein konstruktives Misstrauensvotum des Amtes enthoben und Helmut Kohl zu seinem Nachfolger gewählt.

Im Dezember 1982 stellte Helmut Kohl die Vertrauensfrage, bei welcher er vereinbarungsgemäß keine Mehrheit bekam. Daraufhin löste Bundespräsident
Karl Carstens den Bundestag auf, es kam zu Neuwahlen. Das Bundesverfassungsgericht sah die Art und Weise der Auflösung als verfassungskonform an (BVerfGE 62, 1).

Nachdem Altbundeskanzler Helmut Schmidt auf eine erneute Kanzlerkandidatur verzichtete, wurde der ehemalige Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel als Kanzlerkandidat der Sozialdemokratische Partei Deutschlands aufgestellt. Für die CDU/CSU trat, erstmals als Kanzler, Helmut Kohl an.

Die Grünen zogen erstmals in den Bundestag ein.

Die Gelsenkirchener diskutieren die Politik. Oberbürgermeister Werner Kuhlmann als erster Bürger der Stadt ebenso wie der „kleine Mann“ und die „kleine Frau“ von der Strasse.
Heftig aber trotzdem friedlich ging es damals zu, Desillusion, aber auch Aufbruchstimmung und Engagement kann man entdecken, die Probleme sind geblieben, die Umgangsformen haben sich geändert.

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Von Heinz Niski

Handwerker, nach 47 Jahren lohnabhängiger Arbeit nun Rentner. Meine Helden: Buster Keaton, Harpo Marx, Leonard Zelig.

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Klau.Holl.

Lieber Heinz Niski, dass die sozialliberale Koalition alleine wegen der Wirtschaftspolitik zerbrach, das ist so nicht richtig. Das ist das, was Sozialdemokraten und dort die linken sehr gerne behaupten. Das ist die „sozialdemokratische“ Dolchstoßlegende zum Zerbrechen der Koalition von Helmut Schmidt. In Wahrheit war es die Tatsache, dass der Nato-Doppelbeschluß im Bundestag ohne die Union nicht durchgekommen wäre, da viele Bundestagsabgeordnete der SPD-Fraktion ihrem eigenen Kanzler nicht mehr gefolgt sind. Daher sah die FDP das Problem, dass wenn der größere Partner nicht mehr regierungsfähig ist, wenn nicht der Kanzler seine eigene Fraktion die volle Unterstützung hat, eine Aufrechterhaltung der Koalition keinen Sinn mehr hat. Es war eben NICHT die andere Wirtschaftspolitik als Hauptgrund. Zugegeben, es passte der FDP allerdings auch die Wirtschaftspolitik zu ändern. Nur ist die SPD-Fraktion was die Unterstützung der Ukraine und die Stärkung der NATO angeht heute wieder völlig uneins und keine weiß, ob die Fraktion ihrem Kanzler folgen würde. Klingt nach einem politischen Deja vu. Und in der Frage der Ukraine und der NATO ist sich Jamaika näher als die Ampel. Jetzt die Gretchenfrage: Wie hält es die SPD mit der Zeitenwende? Denn Habeck und Baerbock ist klar, sollte die Ukraine fallen, dann ist alles, was man in der Ampel vereinbart hat, obsolet. Und das ist es, was für Scholz das Damoklesschwert ist.

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Klau.Holl.

ich wollte Dich nur bezüglich Deines Blickwinkels aufden Bruch der Koalition 1982 hinweisen, dass Du das ein wenig durch die rosarote Brille siehst. Und diese Koaltion ist tatsächlich in ihrem Bestand gefährdet, da Mützenich und seine Gefolgsleute eine innerparteiliche Opposition aufgebaut haben, die Scholz lähmt. da sehe ich zu damals schon gewisse Parallelen. Und in der Retrospektive sieht alles natürlich viel netter aus. Die Gesellschaft in Westdeutschland war sicherlich homogener und nicht so gespalten wie die heutige gesammtdeutsche Gesellschaft, da gebe ich Dir Recht, da ich das genauso sehe. Und das mit Sorgen.

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Pauli

Ein wunderbarer Beitrag aus der Zeit, als noch alles „i.O.“ war und die Spezialdemokraten in Gelsenkirchen Wahlergebnisse „60 plus x“ einfuhren.

Aber das Zitat „die Grünen waren […] noch nicht komplett gekapert von verbeamteten Lehrern […]“ sollte sicherheitshalber ein verbeamteter Deutschlehrer – so Heinz einen kennt – korrigieren. Meines Wissens haben „Die Grünen“ „verbeamtete Lehrer“ nicht gekapert (also erbeutet), sondern irgendetwas anderes.

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Klau.Holl.

 ich weiß, das mindestens zwei verbeamtete Lehrer bei der Gründung der Grünen in Gelsenkirchen dabei waren.comment image

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Klau.Holl.

einer davon war mal mein Deutschlehrercomment image Bernd M.

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Bernd Matzkowski

Klaus, das ist nicht ganz korrekt. Bei der Gründung der Grünen in GE (oder auch woanders) war ich nicht dabei, bin dann aber später mit einer ganzen Gruppe in Gelsenkirchen eingetreten und gehörte zur ersten grünen Rathausfraktion noch unter OB Kuhlmann. Bis zu meinem Austritt aus Fraktion und Partei habe ich es aber auf etliche Jahre grüne Ratsarbeit gebracht.

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Klau.Holl.

 und ich dachte Du warst von der ersten Minute dabei. Davon ab hast du unter den CDU-Leuten im Rat höchstes Ansehen genossen.

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Ro.Bie.

Haben wir damals auch nicht gewusst. Mein Leben war ab Ende der 70er bis in die 90er alles Andere als gemütlich…genauso wenig wie heute…nur die Bärte sahen gleichermaßen schrecklich auscomment image.

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Mi.Eisen.

Was für ein wunderbares Zeitdokument! Eine herrliche Zeitreise, da schien trotz solcher Figuren wie Bolzplatz-Werner noch Veränderung möglich… und samstags war noch Leben auf der Bahnhofstraße!

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Uw.Klei.

Herrliches Zeitdokument. Ehrlich einfach Menschen und ein leicht arroganter OB Kuhlmann, Ex-Polizist und Gewerkschaftsfunktionär im Interview.

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Werner Montel

Ein tolles Zeitdokument. Vielen Dank dafür.

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