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Die WAZ-Lokalausgabe hat in den letzten Monaten deutlich an Profil und Informationswert gewonnen. Dies vor allem dadurch, dass sie mehrfach Mängel und Missstände in der Stadt aufgezeigt und Beschwerden aus der Bürgerschaft aufgegriffen hat. Als Beispiele sollen nur genannt werden: Die Debatte um die Zustände auf dem Heinrich-König-Platz, die Integrationsthematik, die Problematik der innerstädtischen Verkehrs-und Parksituation sowie mehrfache Hinweise auf die Müllberge in einzelnen Straßenzügen in den Stadtquartieren. In diesem Kontext hat die Lokalredaktion auch den kritischen Zustandsschilderungen der Bezirksbürgermeister einen großen Raum gegeben. Diese Linie der Lokalredaktion ist positiv und sollte unbedingt fortgeführt werden!
Nun kann ich mich allerdings nicht des Eindrucks erwehren, als breite sich so etwas wie ein schlechtes Gewissen in der Redaktion über die eigene Berichterstattung aus, verbunden mit dem Drang, Gelsenkirchen auch einmal deutlich positiv zu zeigen. Oder wie ist die heutige erste Seite der WAZ-GE zu erklären, die betextet und bebildert Gelsenkirchen als „Stadt der AufsteiGEr“ bezeichnet und uns auf einem großformatigen Foto den AufsteiGEr Arthur zeigt, der eine Kletterwand in einer „Bewegungskita“ erklimmen will (Frage: Gibt es in Gelsenkirchen auch Kitas, in denen die Kinder sich nicht bewegen, also Stillsitz-Kitas?). Über den Aufstieg von Arthur erfahren wir im Artikel übrigens ansonsten nichts, wobei spätestens bei der Lektüre des gesamten Beitrags, verfasst von mehreren Mitgliedern der Lokalredaktion, klar wird, dass uns das Foto ein wenig in die Irre führt, denn es geht nicht um einzelne Menschen, sondern vor allem um Institutionen oder Planungsvorhaben. Der Begriff „Aufsteiger“ wird also strapaziert!

Schaut man in den DUDEN, findet man zu dem Begriff zwei Hinweise:
a) männliche Person, die in eine höhere Position und damit in eine angesehenere gesellschaftliche Stellung aufgerückt ist, Gebrauch umgangssprachlich, Beispiel: ein sozialer Aufsteiger
b) Mannschaft, die in die nächsthöhere Spielklasse eingestuft wurde, Gebrauch Sport

Als „Aufsteiger“ begegnen uns im Zeitungsbeitrag die Wirtschaft (Anstieg sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse bei gleichzeitigem Spitzenplatz, was die Höhe der Arbeitslosigkeit angeht), die Kultur unter Verweis auf die neue Spielstätte Heilig-Kreuz, die Umwelt (Verringerung der Treibhausgas-Emissionen), die Kriminalität (Rückgang in einigen Bereichen, wobei die Pandemie als eine Ursache nicht verschwiegen wird) und der Bereich der Kindertagesstätten (Ausbaupläne).
Alles in allem sind die einzelnen Informationen nicht falsch, sondern durchaus sachgerecht. Sie allerdings als „Aufsteigergeschichten“ anzupreisen und mit einem möglichen Aufstieg des S04 in die erste Bundesliga zu verknüpfen, ist doch letztlich gewagt. Hier werden die dürren inhaltlichen Aspekte redaktionell arg aufgepumpt, so etwa wenn im AufsteiGEr-Modul „Kultur“ allseits Bekanntes (Musiktheater, Konzerte in der Arena) noch einmal aufgekocht wird. Zudem wird der gesamte Artikel durch die Bilderstrecke von vier Farbfotos (neben Arthur je ein Foto zum Schulausbau, zum Kraftwerk Scholven und zur Heilig-Kreuz-Kirche), die die halbe Seite einnehmen, optisch zu einem „Riesending“ gemacht. Der Artikel wirkt daher ein wenig wie manche Presseerklärung der Verwaltung, die versucht, ein wenig Glanz in die Alltagstristesse der Stadt zu bringen. Oder wie diese eigentümliche (inhaltsleere und wenig aktuelle) Hochglanzzeitung mit den vielen Leerstellen, mit der die Presseabteilung der Stadt uns – zum Glück nur gelegentlich – belästigt („Gelsenkirchen. Die Stadtzeitung“ – aktuelle Ausgabe November 2021).
Schräg wird der heutige Artikel in der Lokalausgabe aber leider dadurch, dass in der Hauptausgabe auf Seite 2 des Mantels der WAZ die Stadt Gelsenkirchen in einem ganz anderen Kontext negativ auftaucht, nämlich bei den aktuellen Zahlen zu Schülerinnen und Schülern, die 2020/21 ohne jeglichen Abschluss die allgemeinbildenden Schulen verlassen haben: „Unter den kreisfreien Städten und Kreisen war der Anteil der Abgängerinnen und Abgängern ohne Abschluss mit 7,8 % in Gelsenkirchen am höchsten (…).“

Ob wir über diese Jugendlichen in der Lokalausgabe der WAZ demnächst mal eine Aufsteigergeschichte werden lesen können?

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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Fra.Prez.

Danke für die sehr gute Textarbeit.

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Ro.Bien.

Ist mir auch direkt aufgefallen. Aber seid froh, dass ihr endlich mal wieder so eine engagierte Truppe habt. In BO wissen die nicht mal wie Ratspolitik geschrieben wird. Der Eiskirch und seine Fans können machen, was sie wollen. Man hört und liest nichts, was da im Rathaus passiert, mit welchen Auswirkungen.

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So.Jo.Tien.

deine Beschreibung erinnert mich an das Ergebnis der Studie publiziert im Jahr 2018/19: Sicherlich „gebe es „bei der Hintergrundberichterstattung (…) noch Luft nach oben.“ Die Analyse offenbart gegenwärtig Defizite, die sich schon früher erkennen ließen. „Die Zeitungen sind relativ unkritisch und enthalten in der Regel nicht allzu viele kontroverse Artikel“, konstatieren die Wissenschaftler. „Eine heile Welt des Lokalen“ ließe sich auch im Jahr 2015 vorfinden. Und weiter: „Die Zeitungen sind bei Grafik und Text nur eingeschränkt unterhaltsam und bieten zumeist nur Berichte und Meldungen.“ Dies führt zu der Schlussfolgerung, dass Lokalausgaben „der Anforderung einer anschlussfähigen Selbstbeobachtung der Gesellschaft nicht immer gerecht werden“.“ 

https://meedia.de/2018/09/19/unabhaengig-vielfaeltig-aber-oberflaechlich-und-unkritisch-studie-zeigt-wie-es-um-den-lokaljournalismus-steht/

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Ro.Bien.

Die wenigen „Alten“, die noch Biss hatten sind weg – die, die noch da sind, haben den Kaffee auf. Es gibt sicher Ausmaßen, leider rar gesät. Vielleicht besteht ja Hoffnung bei den Baby Boomer, die immer noch für ihren Job brenne – und Online endlich was Neus, Kritisches schaffen – weil sie auch nicht mehr so lohnabhängig sind. Jedenfalls gäbs da eine Riesenlücke zu füllen.

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Sinan Sat

Hallo Redaktion HerrKules,
zu einem Punkt möchte ich etwas beisteuern und die formulierte Sorge, wir könnten angesichts unserer Berichterstattung/Linie ein schlechtes Gewissen bekommen haben, entkräften. Das ist wahrlich nicht so. Wir bemühen uns weiterhin den Finger in die Wunde zu legen, unbeirrt ob der Reaktionen Entwicklungen anzusprechen, verschiedene Perspektiven abzubilden. Dass die heutige Aufmachung nicht jedem gefällt, verstehe ich. Aber Sie dürfen mir glauben, dass ist mitnichten Dokument eines Richtungswechsels oder eine Wiedergutmachung o.ä..

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So.Jo.Tien.

Die kritisierten WAZ-Beiträge wirken etwas viel wie „Hofberichterstattung“. Ex-Mannheimer Morgen-Journalist Prothmann zu dem Begriff:
„Viele Lokalredaktionen machen doch nur eine unterwürfige Hofberichterstattung – das braucht kein Mensch.“
Bundespräsident Steinmeier zum Begriff der Hofberichterstattung in seiner Rede zur Jubiläumsveranstaltung „50 Jahre Verband Deutscher Lokalzeitungen e. V.“ im Jahr 2017:
„Lokalpolitiker wissen: Nichts ist der eigenen Sache zuträglicher, als die Lokalzeitung für sie zu gewinnen. Keine Fürsprache ist effektiver, als die einer am Ort respektierten Zeitung. Doch das gilt nur, solange beide – Politik und Presse – die gebotene Distanz zueinander wahren. Lokalzeitungen verdienen sich den Respekt kleiner Gemeinden mit einer überschaubaren Zahl von Menschen nur, wenn sie unabhängig und kritisch bleiben. Hofberichterstattung schätzt man in Ost-Westfalen so wenig wie andernorts in Deutschland.“
Genau das hat der Autor hier angesprochen. Die WAZ hatte sich mit dem neuen Chefredakteur Sinan Sat wieder etwas mehr Respekt der Menschen in der Stadtgesellschaft verdient. Der Respekt der WAZ war mit dem vorherigen Chefredakteur, mit dem ich hier auf FB eine lange Auseinandersetzung darüber hatte, die letztlich mit seiner Selbstzufriedenheit endete 30.000 WAZ-Abonennten zu haben, so ziemlich verloren gegangen.
Nun fordert wahrscheinlich die Chefetage der WAZ von Sinan Sat wieder Zahlen. Das geht bekanntermaßen immer auf Kosten von Respekt und Vertrauen. Ich sehe schon, wie Sat die Koffer packt und in die nächste Stadt wechselt, die er auf Vordermann (oder Kurs) bringen soll. Mit dem Motto also, mit dem er erst kürzlich aus Essen hierher anreiste. Weil „Hofberichterstattung“ und der verfassungsrechtliche Auftrag an die Medien einer Vierten Gewalt im Staate wohl kaum unter einen Hut zu bringen sind, wenn – wie vorliegend – der Eindruck entsteht, dass Politik und Presse wieder die gebotene Distanz zueinander verloren haben, und nicht mehr unabhängig und kritisch berichtet wird. Dann beginnt mit dem Entstehen dieses Eindrucks der Verlust des Respekts. Und ein erfolgreich begonnenes Projekt der Wiederbelebung der medialen demokratischen Teilhabe droht erneut dem Scheitern entgegenzusteuern.

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Mi.Rob.

Dafür winken nach der Tätigkeit bei der WAZ mitunter Arbeitsplätze bei der Stadt wie kürzlich bei Anne Bolsmann.
Es lohnt sich offenbar, wohlwollend zu berichten.

https://www.gelsenkirchen.de/de/rathaus/politik_und_verwaltung/vorstandsbereiche_und_dienststellen/31213-redaktion-12-11

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Ro.Bien.

Die Zeiten, wo Redakteure und Freie vom Tagesgeschäft in den Medien gut bis zur Rente leben können, ist vorbei. Bis auf wenige Ausnahmen.

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Heinz Niski

Mich interessieren Zahlen, Zahlen, Zahlen, Fakten, Fakten, Fakten.
Zahlen über den prozentualen Anteil von Lesern, die einen Zuwanderungs-Flüchtlings-Migrantischen-Armutswanderungs-Globalisierungshintergrund haben.
Anders: konzentriert sich die WAZ auf die bio-bildungsbürger-kartoffeln oder versucht sie ihrem Auftrag auch in Schichten und Milieus gerecht zu werden, die zwar zahlenmäßig eine große Gruppe sind, im politischen und medialen Bereich aber eine Randgruppe sind und wahrscheinlich auch bleiben werden.

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Ro.Bien.

Die lesen, wenn sie lesen (können), den Stadtspiegel.

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Heinz Niski

sieht bei der Bevölkerungsentwicklung dann aber nicht sehr gut aus für die WAZ.

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Ro.Bien.

Vielleicht reissen die Ukrainerinnen es raus.

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