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Ein Beitrag zum 75. Geburtstag der Wochenzeitschrift

Ja, DIE ZEIT hat immer noch Gewicht! Bei der Geburtstagsausgabe  vom 25.2.2021 sind es sogar fast 500 Gramm, bedingt durch den Seitenumfang von rund hundert Seiten und das beeindruckende Format (55 mal 40 cm). Die verkaufte Auflage der Wochenzeitung lag im vierten Quartal 2020 bei fast 548000 Exemplaren (inklusive der verkauften E-Paper-Ausgabe), und die Reichweite der ZEIT konnte von 1,23 Million Leserinnen und Lesern in 2004 auf 1,72 Million im Jahre 2019 gesteigert werden. Um die Bedeutung dieser Zahlen und v. a. der Zuwächse einzuordnen, sollte man berücksichtigen, dass die verkaufte Gesamtauflage aller deutschen Tages- und Sonntagszeitungen zwischen 1995 und 2019 um mehr als 50% gesunken ist, nämlich von 30,2 Millionen (1995) auf nur noch 14,9 Millionen im Jahre 2019.

(Quelle zu den Zahlen: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/171774/umfrage/verkaufte-auflage-der-zeitungen-in-deutschland/)

DIE Zeit wirkt immer noch wichtig – und sie macht ihre Leserschaft wichtig! Wenn man mit der ZEIT unter dem Arm am Tisch eines Straßencafés Platz nimmt, einen Espresso oder auch schon mal einen Prosecco bestellt, die Zigarette entzündet und die Zeitung aufschlägt, um so zu tun, als lese man diese 500 Gramm Papier in einer Woche von vorne bis hinten, dann macht das schon was her, und man wirkt auf den ersten Blick  durchaus so, als sei man universell interessiert und auch halbwegs universell gebildet. Und selbst die Bahnhofstraße wird dann zu einem Pariser Boulevard veredelt! Es darf nur nicht windig sein! Dann verwandelt sich  dieses Blatt nämlich  in ein flatterndes Ungetüm und die Lektüre wird zu einer Slapstick-Nummer!

Immerhin: in diesem Jahr wird DIE ZEIT 75 Jahre alt, und sie gilt immer noch als das liberale Flaggschiff in der Welt der Zeitungen und Zeitschriften. Sie bleibt verbunden mit den Namen Gerd Bucerius, Marion Gräfin Dönhoff und Helmut Schmidt, die das Blatt lenkten und als Persönlichkeiten adelten und ihm, in weite Kreise der Republik hinein, jeweils ein eigenes Gesicht gaben. Mit der Ausgabe vom 25.2.21 beginnt DIE ZEIT eine Art Selbstvergewisserung oder Standortbestimmung unter der Fragestellung „Wer sind wir?

Im Kern, so ZEIT-Chef Giovanni Di Lorenzo, in seinem Beitrag, der die Frage beantworten soll, geht es darum, DIE ZEIT als ein Blatt zu verorten, dass sich seit Mitte der 50er Jahre auf eine liberale Linie festgelegt hat, „mit der sich die Redaktion bis heute identifiziert.“ Sozusagen als aktuellen Beweis setzt sich Di Lorenzo mit der sich ausbreitenden Cancel- Culture auseinander, die er kritisiert und für die er mehr oder weniger bekannte Beispiele nennt (siehe im Sonderteil 75 Jahre Zeit, S.1).

An anderer Stelle im Blatt wird, sozusagen auf der Spur Di Lorenzos, die Thematik aufgegriffen. Oliver Günther, Präsident der Universität Potsdam, spricht sich für eine offene inneruniversitäre Debattenkultur und gegen Denk-, Sprech-, Diskussions- und Vortragsverbote aus (siehe S. 41). Schon allein, dass er meint, dies überhaupt tun zu müssen, zeigt, wie gefährdet an deutschen Universitäten offensichtlich das eigentlich Selbstverständliche geworden ist!  Jan Ross wiederum berichtet über die Cancel-Culture in England und Gegenbewegungen, wie sie sich in einem Gesetzentwurf der Konservativen Partei finden.

Dass DIE ZEIT in dieser „Geburtstagsausgabe“ Partei ergreift gegen das Canceln des freien Wortes, gegen Redeverbote, gegen das Niederschreien von Dozenten und Dozentinnen oder auch Schriftstellerinnen, wie etwa Joanna K. Rowling  (Harry Potter), ist löblich! Rowling, um bei ihr als Beispiel zu bleiben, hatte in einem TWEET darauf  bestanden, dass es eine biologisch bestimmte Geschlechtsidentität von Frauen gibt. „Am 6. Juni postete sie mit beißender Ironie auf Twitter zu dem Vorschlag, den Begriff FRAU (woman) zu ersetzen durch den Begriff „poeple who menstruate: ‚People who menstruate.‘ I’m sure there used to be a word for those people. Someone help me out. Wumben? Wimpund? Woomud?“ Zu Deutsch in etwa: „‚Menschen, die menstruieren.‘ Ich bin mir sicher, es gab mal ein Wort für solche Leute. Hilf mir mal jemand. Fräuen? Frausen? Fraua?“

(Quelle: https://www.zeit.de/kultur/2020-06/joanne-k-rowling-vorwurf-transfeindlichkeit-konflikt-twitter)

Rowling sah sich daraufhin einem Shit-Tsunami ausgesetzt!

Dass diese Auseinandersetzung um die Bevormundung durch die  Cancel-Culture in den drei Beiträgen überhaupt geführt wird, ist positiv! Dass sie  –  meinem Geschmack  nach – in  Inhalt und Wortwahl ein wenig zu sanft geführt wird, mag daran liegen, dass DIE ZEIT leise Töne liebt – auch wenn laute durchaus berechtigt wären. Ein Grund für diese Milde ist aber sicher auch der Umstand, dass die weißen Segel des liberalen Großschiffs längst befleckt sind. DIE ZEIT ist nämlich selbst eine Vorreiterin der Cancel-Kultur, die sie in ihrer Geburtstagsausgabe kritisiert.

Man kann den Zeitpunkt des Abkippens in diese Strömung sehr genau festlegen bzw. an einer Ausgabe festmachen: In der Nummer 29/2018 vom 12.7.2018, die übrigens auf der 1. Seite die Schlagzeile „Sei mutig!“ trug, präsentierte die ZEIT zwei Beiträge zum Thema „Seenotrettung“ im Mittelmeer. Dabei ging es natürlich um die „private“  Rettung von Menschen, die, von der nordafrikanischen Küste aus, mit Hilfe von Schleusern versuchen, das europäische Festland in Italien zu erreichen und dabei von Booten aufgenommen werden, die von NGOs, den Kirchen oder anderen Institutionen, Einrichtungen und Vereinen finanziert werden.

DIE ZEIT präsentierte in der genannten Ausgabe zwei Beiträge von Redakteurinnen: Caterina Lobenstein verteidigte vehement diese Rettungsaktionen, stellte sie als humanitäre Pflicht dar, betonte Aspekte des Menschenrechts, des Grundgesetzes, der europäischen Werte. Mariam Lau nahm eine andere Position ein: Sie vertrat die These, die „Seenotretter“ vergrößerten eher die Probleme, die hinter den Versuchen, nach Europa zu gelangen, steckten und beförderten das Geschäft der Schleuser. Zum Ende ihres Beitrags schrieb sie:

Je schneller sich alle Seiten daran gewöhnen, dass keiner die reine Lehre durchsetzen kann, desto besser. Europa – da haben die Seenotretter recht – kann und soll sich nicht völlig abschotten. Aber es muss besser und schneller aussuchen, wer kommen darf. Statt die afrikanischen Regierungen, wie die NGOs es tun, dabei von jeder Verantwortung freizusprechen, müssen sie mit an den Tisch, als Akteure mit Interessen, nicht als Wohlfahrtsempfänger. Aber den Gedanken, durch die von Rettern ermöglichte Migration geschichtliches Unrecht zu heilen, den sollte man vielleicht bald mal zu den Akten legen. Wer mit dem Verweis auf Menschenrechte jede Sicherung der Grenzen zu verhindern versucht, wird am Ende denen in die Hände spielen, die gar kein Asylrecht mehr wollen.“

(https://www.zeit.de/2018/29/seenotrettung-fluechtlinge-privat-mittelmeer-pro-contra/komplettansicht)

Was DIE ZEIT hier gemacht hatte, war im Grunde etwas ganz Klassisches, für eine liberale Zeitung eigentlich  Routinemäßiges: ohne die Leserschaft zu bevormunden, wurde ein kontrovers diskutiertes Thema auch kontrovers dargestellt, indem die zwei Positionen gleichberechtigt nebeneinander präsentiert wurden. Das verschaffte der Leserschaft die Chance, sich aus These und Gegenthese und dem Abwägen der Argumente selbst ein nuanciertes Urteil zu bilden. Zudem machte die Vorgehensweise etwas klar: In einer (liberalen) Zeitungsredaktion sollte es nicht nur möglich, sondern selbstverständlich sein, dass unterschiedliche Positionen sozusagen zur DNA der Zeitung gehören und quasi abbildhaft gesellschaftliche Kontroversen aufzeigen.

Die beiden Artikel lösten eine Flut von Leserbriefen aus. Der Beitrag von Mariam Lau fand durchaus  Zustimmung, erntete überwiegend aber heftigste Kritik bis hin zur persönlichen Verunglimpfung. Aber auch DIE ZEIT selbst wurde für ihr Vorgehen, also für den Abdruck beider Positionen sowie für Leserbriefe, die für Mariam Laus Position Stellung nahmen, heftig kritisiert. So etwa in diesem Beispiel : „LechtsundRinks

#27  —  14. Juli 2018, 11:12 Uhr

Bravo, Zeit! Endlich sind die Artikel genauso menschenverachtend wie die Kommentare. Das war mein letzter Besuch und meine letzte Interaktion mit Ihnen. Die Zeit gilt fortan als braunes Blatt.“   

(Hervorhebung durch mich).

DIE ZEIT bzw. die Chefredaktion knickte ein und ließ ihre Redakteurin Lau nicht nur im Stich, meinte sogar, sich  von ihr distanzieren zu müssen, indem sie Laus Artikel in der Folgeausgabe  kritisierte. So heißt es u.a. in der Stellungnahme der Chefredaktion:

Viele Leser waren empört und haben uns massiv kritisiert. (…) Tatsächlich haben wir Fehler gemacht: zunächst das Pro und Contra selbst. Es ist heikel, ein Pro und Contra zur privaten Seenotrettung zu einer Zeit zu bringen, da es bei der staatlichen Seenotrettung politisch gewollte Lücken gibt. (…)

Schließlich kam im Contra-Text von Mariam Lau nicht genug zum Ausdruck, dass wir – auch die Autorin – großen Respekt haben vor jenen, die ihre Freizeit und ihr Geld einsetzen, um auf dem Mittelmeer Menschen in Not zu retten, und sich dabei mitunter selbst in Gefahr bringen.. (…).

 

(https://www.zeit.de/2018/30/private-seenotrettung-pro-contra-zeit-debatte)

Was war hier geschehen?

Ein beschämendes Stück Gefälligkeitsjournalismus!

Nämlich eine Unterwerfung unter Teile einer Leserschaft, die in ihrer Selbstgerechtigkeit auf der Basis ihrer vermeintlichen „richtigen Haltung“ offensichtlich noch nicht einmal mehr ertragen kann, dass eine differenzierte Position überhaupt ausgesprochen wird. Der oben zitierte Leserbrief ist dabei keine Absonderlichkeit eines einzelnen Abseitigen, sondern offenbart im Grunde den Kern der Problematik: Jemand holt die Nazi-Keule heraus (Die Zeit gilt fortan als braunes Blatt) und tut dies in einer Ayatollah-Diktion, die keinen Widerspruch duldet und die, auf der Basis eines Beitrags, die komplette Zeitung in Acht und Bann stellt.

Und die Chefredaktion wirft sich in den Staub!

Vor dem Hintergrund dieses hausgemachten Sündenfalls darf die Frage gestellt werden, ob DIE ZEIT ihrem in der Geburtstagsausgabe formulierten Anspruch überhaupt noch gerecht werden kann. Schön formulierte Ansprüche, die beim ersten Gegenwind fallengelassen werden, verbrennen nämlich sehr schnell zu Asche im Mund. Insofern kann der letzte Abschnitt des „Geburtstagsbeitrags“ bestenfalls eine Hoffnung sein, im schlimmsten Fall aber wohl formulierter Zynismus. Es heißt dort:

 

Wenn Medien nicht mehr in der Lage sind, partei- und lagerübergreifend einen Austausch zu organisieren und stattdessen darauf setzen, möglichst störungsfrei die eigene politische Klientel zu bedienen, dann betreiben auch sie die Spaltung der Gesellschaft – und am Ende die der eignen Leserschaft.“

 

Wie sagt Goethe so schön: Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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Heinz Niski

Abgesehen von den in Verschwörungsmythen gefangenen, hängen die meisten Meinungsmacher und Verkünder von „starken Meinungen“, „starken Haltungen“ ihr Mäntelchen eh nur in den Wind. Wenn es keine persönlichen Nachteile bringt, wenn es Mainstream ist, dann lässt es sich gut „Gut“ sein. Journalisten sind da keine Ausnahme. Bibel lesen! Die Stelle mit dem Hosianna und Kreuzigt ihn. Die kleine Frauin auf der Straßin, bei der Bäckerin, Metzgerin, zeigt diesen Genderienen und Känzelkulturinnen eh nur einen Vögelinnen. Die Sprachverhunzung ärgert mich, für die Infantilisierung und Entpolitisierung der Gesellschaft durch Cancel Culture, versuche ich mir einen Rest an Galgenhumor zu erhalten.

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