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Vorspiel

Als Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ erschien, unterrichtete ich tief im Ruhrgebiet einen Kurs „Sozialwissenschaften“. Kein anderes Schulfach der Sekundarstufe II ist so geeignet und zugleich so aufgefordert, aktuelle gesellschaftliche Debatten im Unterricht aufzugreifen wie dieses Fach. Deshalb war es für mich selbstverständlich, die Auseinandersetzung über das Werk Sarrazins im Unterricht zum Gegenstand zu machen. Dies geschah unter Verwendung von Originalauszügen aus dem Buch, aber auch durch die Bearbeitung von  Zeitungsartikeln und anderen Beiträgen, die die kontroverse Diskussion abbildeten. Dass sich diese Kontroverse auch im Kurs widerspiegelte, war nicht nur zu erwarten, sondern erwies sich auch als ungemein produktiv für den Unterricht, zumal etliche Jugendliche mit „Einwanderungsgeschichte“ Kursmitglieder waren.

Einige Zeit nach Beginn der Unterrichtsreihe sprachen mich zwei Kollegen an, die Sozialwissenschaften bzw. Geschichte unterrichteten. Sie waren von Schülern ihrer Oberstufen-Kurse angesprochen worden, ob sie in ihrem Kurs nicht auch dieses Buch besprechen könnten, so wie das bei M. der Fall sei. Die beiden Kollegen  – mit „linkem“ Selbstverständnis (Sozialdemokratie, GEW) und dem „linken Zeitgeist“ verpflichtet –  fragten mich, ob  es stimme, dass ich „diesen Sarrazin“ im Unterricht behandele. Als ich das bejahte und sie ermunterte, dem Wunsch ihrer Schüler nachzukommen und das Buch im Unterricht zu thematisieren, lehnten beide Kollegen mein Ansinnen mit großer Geste ab,  und einer brachte als Argument: „Für so einen reaktionären Scheiß gebe ich doch kein Geld aus, indem ich mir das Buch auch noch anschaffe.“

Ich habe dieses Abwehrverhalten der beiden Kollegen damals unter der Rubrik „Faulheit, sich etwas Neues anzueignen“ abgehakt und als singulär angesehen. Aus heutiger Sicht war diese Einschätzung verkürzt! Nein, falsch!

Die Einstellung der beiden Kollegen war ein früher Vorbote einer Geistes- bzw. Gesinnungshaltung, die für unsere Gegenwart und bestimmte (fortschrittliche) Kreise geradezu phänotypisch ist: eine Gesinnungsarroganz, die die eigene Denkfaulheit überspielt, eine Haltungsarroganz, die das Nachdenken (den Gebrauch des eigenen Verstandes) über Thesen anderer verweigert, und eine Besserwisser-Arroganz, die eine Auseinandersetzung mit anderen Positionen außen vor hält  und das eigene Weltbild schützt, indem Elemente der Außenwelt (der Realität) gar nicht erst zugelassen werden, wenn sie dieses Weltbild torpedieren könnten.

An einem Beispiel: Nach dem aktuellen 2. Lagebild des NRW-Innenministeriums zur Kriminalität  von überwiegend türkisch-libanesischen Clans und ihren Straftaten liegt Gelsenkirchen mit 466 Straftaten und 289 Tatverdächtigen nach Essen und dem Kreis Recklinghausen auf Platz 3. Diese unangenehme Wahrheit sowie die Anzahl (besser: Unzahl) täglicher kleinerer und größerer Vergehen außerhalb der Clan-Kriminalität  (von Ordnungswidrigkeiten und Pöbeleien über körperliche Attacken bis hin zu Messerstechereien) kann man  natürlich ausblenden, indem man sie ignoriert und stattdessen  – etwa in einem Wahlprogramm – ein buntes Bildchen malt, das aber durch Rassisten und Kapitalisten beeinträchtigt wird; beispielhaft hierzu politische Lyrik der Gelsenkirchener Grünen:

Häufig gelingt das Zusammenleben, davon zeugen viele Freundschaften und engagierte Menschen in unserer Stadt. Aber es gibt noch zu wenig gelebte Vielfalt. Viele Migrant*innen erleben täglich Rassismus, werden von kriminellen Vermieter*innen und Arbeitgeber*innen ausgebeutet. Durch Perspektivlosigkeit und Armut entsteht bei Vielen der Eindruck, mit ihren Problemen und Existenzsorgen allein gelassen zu werden. Mangelnder Austausch und fehlendes Wissen über die jeweils andere Kultur ergeben noch viele Spannungen.

(Kommunalwahlprogramm der Grünen Gelsenkirchen,online, Kommunalwahl 2020, Hervorhebung durch mich, B.M.).

Da haben wir doch die Ursache für die Clan-Kriminalität: Wir wissen einfach zu wenig über die Kultur der Clans, die Opfer von kriminellen Vermietern und Arbeitgebern geworden sind, die sie ausgebeutet haben. Dass man dann kriminell wird, ist ja nahezu selbstverständlich!

Dieses Ausblenden der tatsächlichen Gegebenheiten und der Lebensrealität vieler Menschen ist verbunden mit  einer moralisierenden und moralinsauren Rechthaberei und der sich selbst überschätzenden Überzeugung davon, der gesamten Menschheit die Erlösung vom Übel zu bringen (man muss halt einfach nur intensiver den Austausch voranbringen). Und wer das nicht so sieht, ist eben ein Rassist!

 Themen-Tornado und Fragmentarisierung

Was damals in meiner Schule  (vielleicht noch) die Einstellung einzelner verbohrter „Linker“ war, ist heute längst mehrheitsfähig geworden: die Etikettierung oder das Labeling anderer Auffassungen als der eigenen als „rechts“ , „rassistisch“, „populistisch“, „klimafeindlich“, „sexistisch“  oder „genderfeindlich“ ist wohlfeiler Ersatz für eine kontroverse Debatte  und mit einer moralischen Selbstüberhöhung derjenigen verbunden, die meinen, aus einer richtigen Haltung heraus andere Meinungen diffamieren, ausgrenzen und unterdrücken zu können. Ein modernes Pharisäer- und Jakobinertumtum  ist an die Stelle eines gesellschaftlichen Diskurses getreten. Hinzu kommen in immer schnellerem Wechsel  auf die Agenda gesetzte „Dringlichkeitsthematiken“, die für einige Wochen aufflammen, die Debatten (in den Talk-Shows, den Medien),  bestimmen, um dann letztlich wieder zu verschwinden, weil das Thema ausgelutscht ist.(Eine Ausnahme bildet im Moment die Corona-Thematik).Diesel-Skandal, Feinstaub, MeToo-Debatte, Kohleausstieg, Klimawandel, Populismus, Nazitum, AfD, Fridays for Future, Rassismus-, um nur einige der aufgeploppten Themen  der vergangenen Monate zu nennen, die die Gesellschaft wie in einem Wirbelsturm erfasst und durchgerüttelt haben, um dann von einem neuen Tornado verdrängt zu werden. Diese Entwicklung geht einher mit einer Fragmentarisierung gesellschaftlicher Interessen. Es stehen sich nicht mehr große soziale, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Gruppen (von Klassen ganz zu schweigen), wie etwa Gewerkschaften und Unternehmen in Tarifauseinandersetzungen, gegenüber, sondern Interessen von Individuen, die Klein- oder Kleinstgruppen  oder nur sich selbst vertreten, die sich benachteiligt, geschädigt, verfolgt oder nicht genug beachtet  fühlen oder in ihrer Gefühlswelt bedrängt sehen.  So „fühlten“ sich im Jahre 2018 einige  Studentinnen durch das Gedicht „avenidas“ von Eugen Gomringer „sexuell belästigt“, das an einer Fassade der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin angebracht war, was dazu führte, dass das Gedicht seitens der Hochschulleitung von der Hauswand entfernt wurde. Und die Anzahl von Veranstaltungen, etwa Lesungen, Vorträge, Kabarett-Programme, die abgebrochen oder abgesetzt werden (wurden), weil sie gestört wurden, die Veranstalter bedroht wurden, die Eingeladenen als rechts, rassistisch oder antisemitisch gelabelt wurden, sind mittlerweile Legion – die „Fälle“ Nuhr und Eckhart sind nur  zwei prominente Beispiele jüngeren Datums. Jedes Partikularinteresse wird, wenn es nur ausreichend moralisch überhöht und hinreichend in Szene gesetzt ist, zum „Hauptkettenglied“ der gesellschaftlichen Entwicklung erklärt und zum aktuell brennendsten Problem der Gegenwart hochgejazzt. Ein Überbietungswettbewerb  mit rasanter Schlagzahl von Interessen, der stets damit verbunden ist, andere Positionen  abzuwerten oder sogar zu diffamieren.

Dieser Prozess ist von einer eigentümlichen Doppelgesichtigkeit: Auf der einen Seite wird die Debatte bestimmt durch einen, wie der schwedische Soziologe Henrik Oskarsson bereits 2013 formulierte, Meinungskorridor des Sagbaren, der in den letzten Jahren in der Bundesrepublik deutlich von einem links-grünen Weltbild bestimmt wird.

Wessen Meinung sich vermeintlich (oder auch tatsächlich)  außerhalb dieses Korridors bewegt, der wird geächtet, abgestempelt (rassistisch, sexistisch, genderfeindlich etc.), unterdrückt und durchaus auch – bildlich gesehen – zum Schweigen gebracht. Im Zweifelsfall ist das mit der Vernichtung der (materiellen) Existenz verbunden, so etwa wenn Verlage Bücher nicht mehr verlegen oder Veranstaltungen, z. B. Lesungen auf Buchmessen oder in Buchläden, gestört oder aber ganz abgesagt werden. Und dafür braucht es nicht einmal eine Zensurbehörde wie in totalitären Staaten, sondern lediglich den Druck des „mainstreams“, also derjenigen, die sich im angesagten Korridor bewegen. Deren Bannstrahl trifft dann etwa Autoren wie Uwe Tellkamp (Der Turm, 2008) oder Monika Maron (Flugasche, 1981 in der BRD erschienen, Verbot in der DDR), deren Werke und die als Personen in den letzten Jahre auch schon mal gerne „niedergemacht“ werden, weil sie sich in einzelnen Fragestellungen  politisch außerhalb des Korridors bewegt haben. Es geht dann eben nicht mehr um das literarische Werk, sondern um die Position eines Autors oder einer Autorin zu einem Aspekt politischen Lebens, etwa der Migrationsfrage. Der öffentlichen Ächtung – in der maoistischen „Kulturrevolution“ setzte man solchen Menschen „Schandhüte“ auf den Kopf, wenn man ihnen nicht noch viel Schlimmeres antat – tritt dann häufig ein „Schweigekartell“ an die Seite, also eine Nicht-mehr-Erwähnung“; die betroffene Person wird sozusagen öffentlich „ausgelöscht“!

Der Begrenzung des Sagbaren steht, das ist die zweite Seite des Doppelgesichts, die Entgrenzung des Unsäglichen gegenüber, also des Verleumderischen und sprachlich Verlotterten, der Beschimpfung und Bedrohung, der Diffamierung und Denunziation, der Etikettierung und Ehrabschneidung, des Vorurteils und des Vulgären,  was wiederum zwei Voraussetzungen hat. Die erste Voraussetzung ist die der technischen Möglichkeiten der Kommunikation und des leichten Zugangs auf den diversen Plattformen wie twitter, Instagram, youTube etc. Damit eng verbunden ist  als zweites Element die Aufhebung der Grenzen  von privater und öffentlicher Kommunikation. Jede Banalität und jede abstruse Meinung, die im Rahmen eines privaten Gesprächs kaum Schaden anrichtet, kann heute nahezu in Echtzeit Millionen Menschen erreichen. Und nahezu alle Politiker und – innen, denen die Pflege und Bewahrung der Form der öffentlichen Rede am Herzen liegen müsste, bedienen sich skrupellos dieser Kanäle der vermeintlichen Volksnähe und schaffen so Zwitterwesen der Kommunikation, also Bastarde des Öffentlichen und Privaten, wobei häufig die inhaltliche Oberflächlichkeit des Vortrags in umgekehrt proportionalem Verhältnis zur Lautstärke der Präsentation steht: Hauptsache schrill, Hauptsache ein Effekt für Aufmerksamkeit – und wenn diese Aufmerksamkeit auch nur eine Nanosekunde andauert.

Dass diese Politikerkaste, die unfähig ist,  nationale oder zumindest europäische Plattformen mit hohen Sicherheitsstandards und Bürgerfreundlichkeit zugleich zu entwickeln, aber überall   Datenschutzbeauftragte installiert, sich ebenfalls den (zumeist US-amerikanischen) Datenkraken hingebungsvoll unterwirft, ist ein blamabler Nebenaspekt.

Permanente Erregtheit und permanente Erregung

Bedingt durch die technischen Möglichkeiten der Kommunikationsinstrumente und –plattformen wird ein Zustand permanenter Erregtheit und permanenter Erregung erzeugt, ein Zustand, in dem Themenwechsel mit ungeheuer großer Schlagzahl erfolgen. Hysterie als Grundrauschen und Zustandsform und gelebte Utopie der Hohen Priester dieses Tanzes um das Goldene Themenkalb!

Kaum haben wir uns dem Sexismus gewidmet, schiebt sich der Rassismus nach vorne. Sind wir dabei, uns diesem Problem zu widmen, kommt die Homophobie auf uns zu, die, kaum, dass sie als Thema aufgegriffen worden ist, von der Transphobie verdrängt wird. Und dass man sich natürlich auch mit seinem „Weiß-Sein“ auseinanderzusetzen hat, kommt als Sahnehäubchen sowieso oben drauf! Und all diese Themen, häufig – wie einst Coca-Cola und Camel-Zigaretten  – aus den USA und ihren Universitäten zu uns herüber schwappend, scheinen jeweils der nächste Schritt zur Glückseligkeit und  zur Befreiung der Menschheit zu sein, nur dass ihre Halbwertzeit immer kleiner wird und sich, anders als nach dem WK II bei Cola und Camel,  das Interesse  großer Teile der Bevölkerung in überschaubaren Größenordnungen hält.

Da bildet auch die zeitweilige Hysterie um Greta T. keine Ausnahme, vor der die Großen der Welt niederknieten. Ihr Stern und der der FFF-Bewegung war bereits wieder gesunken, als das Corona-Virus auf den Plan trat und das Klimathema aus den Schlagzeilen verdrängte. Dass Frau Merkel nun Greta eingeladen hat, wird die FFF-Bewegung nicht wieder befeuern. Denn was bleibt, ist die Tatsache, dass sich der Hype um Greta nur noch für „Zoff“ unter den einstigen Aktivisten eignet (siehe: https://www.bild.de/politik/ausland/politik-ausland/zuvor-bekam-merkel-einen-brief-kanzlerin-empfaengt-klima-greta-72477730.bild.html).

Ein weiteres Element dieser Entwicklung ist der Ansehens- und Bedeutungsverlust der „etablierten“ Parteien. Ihre Mitgliederzahlen nehmen  ebenso ab wie die der Kirchen, die bei beiden großen christlichen Glaubensgemeinschaften sogar dramatisch abstürzen.

An die Stelle der Bindungskraft der Parteien und Kirchen ist die flüchtige, oft nur im virtuellen Bereich stattfindende Kurzzeitinteraktion getreten, deren Unverbindlichkeit zugleich Raum lässt für die genannten Erregungszustände wie auch für den schnellen Themenwechsel – hysterisch, dramatisierend, schrill und laut!

Eine Geräuschkulisse, die keinen Raum für Nachdenklichkeit, leise Töne und Zwischentöne, das Ersetzen von Meinung und Haltung durch Argumente, Realitätsnähe und Neugierde lässt.

Und die man auch als akustisches Menetekel für den Zerfall, ja nahezu die Atomisierung der Gesellschaft begreifen kann!

 

 

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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Knut

Mal wieder ein interessanter Artikel, dem ich an vielen Stellen zustimme.
Aber: Ich bin dem Hinweis auf das Lagebild des NRW-Innenministeriums zur Kriminalität von überwiegend türkisch-libanesischen Clans und ihren Straftaten gefolgt und hier (https://polizei.nrw/sites/default/files/2019-05/190515_Lagebild%20Clan%202018.pdf) gelandet und von dort dem Hinweis auf der Bevölkerungsgruppe der Mhallamiye gefolgt und zur Wikipedia (https://de.wikipedia.org/wiki/Mhallami) gekommen. Dort heißt es u.a.: „Die Mhallami waren unter den Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem Libanon, die während des libanesischen Bürgerkriegs seit 1976[2] in die Bundesrepublik Deutschland sowie andere europäische Staaten wie die Niederlande, Dänemark und Schweden kamen und seitdem teilweise geduldet sind oder als Asylbewerber leben.“
Wie mag sich jemand fühlen, der hier zwar Aufnahme gefunden hat, aber aufgrund der Duldung keine Chance hat, sich wirklich zu integrieren. Liegt es da nicht nahe, sich an die eigene Herkunftsgruppe zu orientieren? Haben wir es hier nicht mit einem Versäumnis der vergangenen Politik zu tun, die schon bei den sogenannten „Gastarbeitern“ mit der Lebenslüge gelebt hat, Deutschland sei kein Einwanderungsland.
Und ist hier nicht eine integrative Politik erforderlich, die über polizeiliche Maßnahmen weit hinausgeht? Stattdessen werden einfach mit dem Begriff „Clan-Kriminalität“ alle Familienmitglieder in Sippenhaft genommen.

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Fra.Kru.

…man muss (oder sollte) sich schon die Zeit nehmen…

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Knut

Ach Bernd. So platt, wie du es beschreibst, meine ich das auch nicht.
Beispiel aus MEINER Arbeit: Wie fühlt sich ein junger Flüchtling, der sich in einer guten Ausbildung befindet, alle Möglichkeiten zum Lernen nutzt, obwohl die Unterbringung in einem Wohnheim sich nicht zum Lernen eignet, alle drei Monate zur Ausländerbehörde muss, um seine Duldung zu verlängern und nicht weiß, ob er nicht demnächst abgeschoben wird. Dass er trotzdem nicht den Mut verloren hat, dafür habe ich ihn bewundert. Er hatte eine gute ehrenamtliche Unterstützung, aber ich kann Leute verstehen, die diese nicht haben und dann in einem fremden Land aufgeben und sich an ihre eigenen Landsleute orientieren.
Oder ein anderes Beispiel: das in Deutschland geborene, gut intgrierte Mädchen, Besuch des Gymnasiums, das aus dem Schulunterricht heraus mit den Eltern nach Nepal abgeschoben wurde.
Beides wirklich tolle Beispiele dafür, dass “ unsere gesellschaft einwanderern soviele möglichkeiten und hilfen anbietet wie noch nie zuvor“, oder?

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Knut

Lieber Bernd,
eine Position dazu habe ich. Die vielseitige politische Lyrik nervt mich ebenso wie die beständige Untätigkeit. WIe in meinen Beiträgen über Bivsi aus Duisburg nachzulesen ist, kritisiere ich das fehlende Einwanderungsgesetz und die kalte, staatliche Bürokratie.

In was für einem Land lebe ich eigentlich?
https://antifaschistischesgelsenkirchen.wordpress.com/2017/06/02/in-was-fuer-einem-land-lebe-ich-eigentlich/

Demokratischer Protest erfolgreich: Bivsi is coming home!
https://antifaschistischesgelsenkirchen.wordpress.com/2017/07/27/demokratischer-protest-erfolgreich-bivsi-is-coming-home/

Ich zitiere mich mal selbst: „Was bleibt, ist daher nicht nur die Kritik am fehlenden, modernen Einwanderungsrecht in Deutschland. Denn die bürokratische und menschenverachtende Art und Weise des Vorgehens hat mein Grundvertrauen in dieses Land erschüttert und erinnert mich an die dunkelste Zeit in Deutschland. In meinem früheren Beitrag erwähnte ich meine erste Assoziation, als ich von Bivsis „Abschiebung aus dem Klassenzimmer“ heraus hörte. In den 1940er Jahren wurde das in Gelsenkirchen geborene Sinti-Mädchen Rosa Böhmer von der Gestapo aus der Schule abgeholt und gemeinsam mit ihrer Familie ins KZ gebracht. Natürlich ist Katmandu nicht Auschwitz und die Duisburger Ausländerbehörde nicht die Gestapo. Doch die Art und Weise des Umgangs mit einem hier geborenen und aufgewachsenen minderjährigen Mädchen, das unschuldig an der juristischen Situation seiner Familie ist, und der historische Vergleich zeigen trotz aller Unterschiede vor allem eines: ein funktionierender, staatlicher Vollstreckungsapparat steht – wofür auch immer – bereit.“

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