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1.
Anselm war sauer. Stinksauer. Er hockte, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, unter dem Fensterbrett des Flurs vor dem Klassenzimmer. Die Knie hatte er fast bis unters Kinn gezogen, seine Arme waren trotzig verschränkt. Er blickte missmutig auf die bunten Quadrate der Bodenfliesen, so als seien sie der Grund für seinen Ärger. Aber die Quadrate schien das nicht zu interessieren, jedenfalls taten sie so und reagierten nicht.
Der Tag hatte wieder ´mal blöd angefangen. In der Schule hatten sie ihn schon vor der ersten Stunde auf dem Schulhof wegen seines Namens aufgezogen. „Amsel, Amsel, da kommt die Amsel“, riefen sie ständig hinter ihm her und ahmten mit ausgebreiteten Armen die Schwingen von Vögeln nach. Da hatte er doch wohl Grund genug, sauer zu sein! Nicht auf die Mitschüler, die waren eben einfach Kinder, sondern auf seine Eltern. Warum mussten sie ihm aber auch diesen bescheuerten Vornamen geben? Er wusste es nur zu gut. Sein Vater war in die Gemälde dieses Malers aus dem 19. Jahrhundert so vernarrt, dass er seinem Sohn den Vornamen des Künstlers gegeben hatte. Anselm halt – wegen Anselm Feuerbach. Ein Druck seines Selbstbildnisses von 1878 (mit der Zusatzbezeichnung: Kopf im Dreiviertelprofil nach rechts) hing, repräsentativ platziert, im Eingangsbereich ihrer Wohnung, damit auch gleich jeder Besucher wusste, was Sache war. Anselms Mutter hätte ihm lieber einen alttestamentarischen Namen gegeben, hatte aber schließlich „Anselm“ akzeptiert, um des lieben Friedens willen, wie sie ihm einmal gestanden hatte. Aber ob Abraham, Moses, Noah oder Samuel die bessere Alternative gewesen wären?
Jetzt hieß er jedenfalls Anselm. Und er musste sich schon seit der Zeit im Kindergarten alle möglichen und unmöglichen Verdrehungen seines Namens anhören. Und nun eben auch noch ständig das Gelächter seiner Mitschüler aus der 8 a, die natürlich nicht wussten, wer Anselm Feuerbach war.
Aber so richtig sauer war er wegen dieser Biologie-Trulla mit ihrer Turmfrisur, von der anzunehmen war, dass darin etwa 50 bedrohte Vogelarten nisteten. Sie hatten über den menschlichen Bewegungsapparat gesprochen. Heute. In der 5. Stunde. Er hatte sich gemeldet und diese Frage gestellt, die er neulich als Graffito in einer Unterführung gesehen hatte: Ein Tisch hat vier Beine. Ich habe nur zwei! Warum?
Eine nicht nur berechtigte, sondern eine nahezu philosophische Fragestellung! Aber die Klasse hatte über seine Frage gelacht. Und die Trulla war rot angelaufen und hatte ihn angeschrien: „Amsel, raus mit dir!“
Da saß er also nun. Und war sauer. Stinksauer.
Die Quadrate der Bodenfliesen schwiegen immer noch.

2.
Irgendetwas war anders, als er nach dem Unterricht den großen Flur der Wohnung betrat. Er bemerkte es gleich. Aber was? Alles war an seinem Platz: die kleine Kommode mit dem Windlicht darauf, die Garderobe (Eiche furniert) mit den sechs Kleiderhaken aus Messing, das blöde Bild. Nichts fehlte! Nein, es fehlte nichts. Vielmehr war etwas da, das für gewöhnlich nicht da war! Es war also etwas zu viel!
Es war der Geruch! Der Geruch von erkaltetem Tabakrauch, nach dem es immer in der Wohnung von Onkel Jasper, dem Bruder seines Vaters, roch. Anselm schaltete die Beleuchtung ein. Vielleicht lag in irgendeiner Ecke die Ursache des Geruchs – eine abgebrannte Zigarette oder Zigarre, achtlos ausgedrückt und einfach auf den Boden geworfen – vielleicht von einem Besucher seines Vaters.
Die in die Flurdecke eingelassenen Halogenstrahler flammten auf. Und jetzt bemerkte Anselm es, weil er genau hinsah, nicht nur flüchtig hinschaute wie vorhin, als er eingetreten war: Der Rahmen war leer. Das Gemälde war verschwunden. Es sah aus, als wenn jemand das Selbstbildnis Feuerbachs fein säuberlich mit einem scharfen Messer aus dem Rahmen getrennt hätte.
Er musste seinen Vater anrufen! Oder besser gleich die Polizei? Anselm stürzte ins Wohnzimmer und griff zum Hörer des Telefons. Gleichzeitig bemerkte er, dass der Tabakgeruch hier stärker war als im Flur.
Als er die 110 eintippen wollte, sagte eine Stimme: „Ganz ruhig, Anselm, ganz ruhig!“ Anselm drehte sich um in Richtung des Lesesessels. Von dort war die Stimme gekommen.
„Ach – du Scheiße!“ entfuhr es ihm.
Im Sessel saß ein Mann und rauchte.
Es war der Maler Anselm Feuerbach!

3.
Ein leichtes Schwindelgefühl erfasste Anselm. Er machte ein paar Schritte seitwärts, ließ sich auf das Sofa plumpsen und starrte diesen Feuerbach an. Er glich dem Anselm Feuerbach des Selbstbildnisses im Flur wie ein eineiiger Zwilling dem anderen. Die Jacke mit den breiten Revers und den silbern schimmernden Knöpfen, das Hemd, dessen Kragen und Manschetten sich weiß aufblitzend vom ins Grünliche changierenden Dunkel der Jacke abhoben, der Krawattenknoten – alles stimmte. Ebenso der Schnurrbart und der kleine Kinnbart. Einen solchen Kinnbart hatte Anselm einmal bei einem Musiker namens Frank Zappa auf dem Plattencover einer LP seines Vaters gesehen. Dann noch: Das schmale Gesicht, das volle dunkle Haar und die schlanke lange Zigarette, deren Rauch den Raum ausfüllte. Anselm hatte sich immer gewundert, warum sein Vater dieses Selbstbildnis so mochte, obwohl er Nichtraucher war. Es gab einige andere Selbstbildnisse von Feuerbach – ohne Zigarette in der Hand. Und sein Vater hatte Anselm einmal erzählt, dass Feuerbach zwei Jahre vor diesem Selbstbildnis mit Zigarette an einer Lungenentzündung erkrankt war und noch im gleichen Jahr seine Entlassung aus seiner Professorenstelle an der Wiener Akademie der Künste bewirkt hatte – zwei Jahre vor seinem Tod.
„Gibt es in diesem Hause einen Aschenbecher?“ fragte Feuerbach. „Von meiner Position im Flur hatte ich einen sehr beschränkten Einblick in die Wohnung. Und ich wollte jetzt nicht einfach alle Schränke durchsuchen wie ein Dieb.“
Wie eine mechanische Puppe schwenkte Anselm seinen Kopf in Richtung der Vitrine und nickte. Feuerbach erhob sich aus dem Sessel, ging zu der Glasvitrine und entnahm ihr einen ornamental verzierten Bleikristall-Aschenbecher, der einst Anselms Großvater Franz gehört hatte und als Erinnerungsstück aufbewahrt wurde.
„Ein schönes Teil“, kommentierte Feuerbach, „wiegt bestimmt 1 ½ Pfund“. Er platzierte den Aschenbecher auf der rechten Armlehne des Sessels, setzte sich wieder und aschte ab.
„Du wolltest mich etwas fragen, oder?“ sagte Feuerbach und blickte Anselm dabei freundlich an. „Na los, frag schon!“
„Wie…ich meine, also, das geht doch gar nicht, das ist doch irgendwie…wie soll ich …also, ich glaube das jetzt nicht, das kann doch nicht sein, dass Sie hier sitzen und rauchen“, stammelte Anselm.
„Oh, der Rauch stört dich! Bitte entschuldige – dieses Rauchen ist eines meiner Laster! Ich habe mir schon häufig vorgenommen, damit aufzuhören. Aber du kennst bestimmt die Redewendung: Der Weg in die Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert! Und der Tabak schmeckt mir halt gut, besonders in einem solchen Sessel und mit so einem Traum von Aschenbecher. Wirklich ein schönes Stück!“
„Ja, nein…nicht das Rauchen, das meine ich nicht, also nicht nur, sondern überhaupt, dass Sie aus dem Bild…ich meine, das, das, äh geht nicht, dass Sie aus dem Bild….huuuuh. Das geht irgendwie nicht in meinen Kopf …ich meine, das ist doch…! Ach, ich weiß nicht, wie ich das jetzt sagen soll.“
„Unsinnig, unvernünftig, mit dem Verstand nicht zu vereinbaren —- so ungefähr?“ ergänzte Feuerbach.
„Ja, so ungefähr!“
„Hast du schon einmal nachts den Vollmond betrachtet?“
Anselm nickte.
„Und was hast du dabei gedacht?“
„Dass das schön aussieht.“
„Und weiter!“
„So ein eigentümliches Gefühl hat das gemacht, nicht traurig, nicht glücklich, sondern so ganz eigen, so verwunschen, so….so. Weiß nicht.“
„Sehnsuchtsvoll, sehnsuchtsvoll vielleicht. Und gleichzeitig mit dir haben wahrscheinlich tausende und abertausende Menschen auf der Welt den Mond angeschaut und dieses, wie du gesagt hast, ganz eigene und verwunschene Gefühl gehabt. Und keiner von denen, die zur gleichen Zeit wie du, aber ohne voneinander zu wissen, den Mond angeschaut haben, hat in dem Moment den Mond als physikalischen Körper gesehen, der einen Durchmesser von rund 3500 Kilometer hat. Und niemand hat daran gedacht, dass er, je nachdem, wo er sich auf der Umlaufbahn befindet, zwischen etwa 360 000 Kilometer und rund 400 000 Kilometer von der Erde entfernt ist. Alle haben in diesem Moment nur gestaunt, gefühlt, empfunden. Anders gesagt: Das, was der Mond in den Menschen auslöst, kannst du nicht vermessen oder auf physikalische Fakten reduzieren oder mit dem Verstand begreifen. Und dennoch ist es da!“
Der konnte ja reden, als wenn er zwei Teller Buchstabensuppe gegessen hätte, ging es Anselm durch den Kopf.
Feuerbach inhalierte tief und stieß dann eine Reihe von sechs Ringen aus, die sich wie in Zeitlupe durch den Raum bewegten, ständig ihre Form verändernd.
„Dieses Gefühl ist da, so wie diese Rauchringe da sind, aber sich zugleich in ein Nichts auflösen. Einfangen und vermessen kannst du sie nicht.“
Die Ringe waren verschwunden. Anselms Finger, die sich bis dahin fest in das dunkelrote Sofakissen aus Samt verkrallt hatten, lösten sich von dem Stoff. Er legte das Kissen zur Seite, während der Maler die Zigarette ausdrückte und den Aschenbecher auf dem kleinen Couchtisch neben dem Sessel abstellte.
„Haben Sie das schön öfter gemacht?“ fragte Anselm.
„Das mit den Rauchringen? “
„Nein, nicht diese Zirkusnummer mit dem Rauchen. Ich meine das Aussteigen aus einem Bilderrahmen.“
„Ach, du meinst also, ich sei aus dem Bilderrahmen ausgestiegen. Vor ein paar Sekunden hast du noch gesagt, das sei unmöglich.“
„Wie sollten Sie sonst hierhin gekommen sein – und der Rahmen ist leer!“
„Ist das deine Logik? Der Rahmen ist leer, und ich sitze hier – folglich muss ich aus dem Rahmen gestiegen sein. In dem Rahmen – das war ich doch nicht. Das war doch nur ein Abbild von mir. Übrigens ohne untere Hälfte, aber ich sitze doch hier und bin komplett, oder?“
Wie zum Beweis schlug Feuerbach die Beine übereinander und begann mit dem rechten Fuß zu wippen.
Anselm hörte die Wohnungstür ins Schloss fallen.
„Anselm, Anselm! Bist du schon zu Hause?“
„Ja, Papa, ich bin im Wohnzimmer.“
Anselm merkte, wie ihm heiß und schwindelig wurde.
„Was jetzt?“ flüsterte er Feuerbach zu.
Der aber lächelte, legte seinen rechten Zeigefinger vor den geschlossenen Mund und machte „Pssst!“
Anselms Vater trat ins Wohnzimmer, blickte Anselm an und sagte:
„Junge, was ist? Du bist ja ganz rot im Gesicht.“
Er legte seine rechte Handfläche an Anselms Stirn.
„Ich glaube, du hast Fieber. Na, dann ´mal ab ins Bett.“
Anselm stand auf und blickte zu Feuerbach. Der aber saß seelenruhig im Sessel und hatte sich eine neue Zigarette angezündet. Er stieß wieder sechs Rauchringe aus. Sie schwebten auf die Tür zu und formten die Buchstaben A-N-S-E-L-M.
Anselm hatte für einen Moment das Gefühl, sein Herz bliebe stehen.
Wie durch eine Wattewand hörte er seinen Vater sagen:
„Komm, ich bringe dich in dein Zimmer!“

Zum zweiten Teil

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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