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Von Brecht gibt es die Keuner-Geschichten- kurze parabolische Texte, deren Mittelpunkt Herr Keuner ist, manchmal als „der Denkende“ bezeichnet. Das Denken Keuners ist dialektischer Art, seine Reaktionen verblüffen. So etwa in einer der berühmtesten Geschichten, als Keuner nach langer Zeit einen Bekannten trifft, der zu Keuner sagt: „Sie haben sich nicht verändert“, woraufhin Keuner erbleicht.

Keuner bürstet die Alltagsfloskel hier durch seine Reaktion dialektisch gegen den Strich: für ihn ist die als Lob gemeinte Floskel ein Grund zum Erbleichen, weil Veränderung zum Menschen gehört.

Keuner erweist sich im Denken und Sprechen als listenreich. Deshalb hat er mich immer an Odysseus erinnert und ich habe Keuner – vielleicht dreht sich Brecht im Grab um – immer so abgeleitet: Keuner ist lautlich leicht verkleidet Keiner, keiner ist ein anderes Wort für niemand; auf die Frage Polyphems, wie er heiße, antwortete Odysseus NIEMAND. Folglich Keuner gleich Keiner gleich Niemand gleich Odysseus gleich der Listenreiche.

Wobei seine Listen nicht immer erfolgreich waren. Odysseus, der König des kleinen Inselreichs Ithaka im Ionischen Meer, lebte – für einen König – ein recht schlichtes Leben. Und er war der Sage nach überhaupt nicht begeistert darüber, mit den anderen griechischen Königen gen Troja aufzubrechen. Da aber geweissagt worden war, ohne Odysseus sei Troja nicht zu besiegen, schickten Menelaos und Agamemnon Gesandte zu ihm, um ihn zur Teilnahme am Krieg aufzufordern. Odysseus schob einen Pflug über den Acker, wobei er sich blind stellte und behauptete, er könne seiner Erblindung wegen nicht am Krieg teilnehmen. Da legten die Gesandten der Könige seinen  kleinen Sohn in die Ackerfurche. Odysseus stand nun vor der Wahl, seine Rolle als Blinder aufzugeben oder seinen  Sohn zu zerschneiden. Er entschied sich, seine Rolle aufzugeben – und musste mit nach Troja. Ohne ihn und seine berühmte List mit dem trojanischen Pferd hätten die Griechen auch nach zehn Jahren Belagerungskrieg Troja nicht erobern können.

Seine sich anschließenden zehn Jahre der Reise über das Meer sind im Kern keine Abenteuerreise, sondern Prüfungen. Poseidon, den er geschmäht hatte, blockiert seine Heimkehr, stellt ihn vor Herausforderungen, die ihn letztlich Demut lehren sollen. Der Troja-Zerstörer soll seine Hybris aufgeben, er soll erkennen, dass auch er in die Hände der Götter gegeben ist. Dass er seine Prüfungen besteht und übersteht, ist natürlich immer wieder seinem Einfalls- und Listenreichtum geschuldet.

Als er samt seinen Gefährten von dem Zyklopen Polyphem, einem Sohn des Poseidon, gefangen wird und dieser ihn nach seinem Namen fragt, antwortet Odysseus: „Niemand, ich heiße Niemand.“

Dieser vordergründige Spaß macht Sinn, denn als Odysseus und seine Freunde Polyphem das eine Auge mit einem glühenden Stab ausbrennen und der Blinde vor Schmerz nach seinen Brüdern ruft, antwortet Polyphem auf die Frage, wer ihm ein Leid zugefügt habe, mit: „Niemand hat mir das Auge ausgestochen, Niemand hat mir das Auge ausgestochen.“

Dass seine Brüder ob dieser scheinbar wirren Rede wieder abziehen, wohl der Meinung, Polyphem habe wohl zu viel Wein getrunken, ist schon kein Wunder mehr, aber eine Voraussetzung für die spätere Flucht.

Im Laufe der Zeit lernt Odysseus seine Lektion. Als er endlich heimkehren darf, verbringt er seine erste Nacht auf Ithaka ganz bescheiden in der Hütte eines Schweinehirten, bevor er seinen Thron besteigt, nachdem er, gemeinsam mit seinem Sohn, alle Männer tötet, die seinen Thron usurpieren wollten.

Die schlaue Antwort des Odysseus auf die Frage Polyphems nach seinem Namen feiert eine unterhaltsame Wiederkehr in dem Film „Mein Name ist Nobody“ aus dem Jahre 1973. Hier begegnen sich Jack Beauregard (gespielt von Henry Fonda) und Nobody (Terence Hill). Beauregard ist ein gealterter Westernheld und Schütze, der es satt hat, sich immer wieder Duellen stellen zu müssen, zu denen er herausgefordert wird. Er will per Schiff nach Europa übersetzen. Um sich seinen lästigen Verfolgern zu entziehen und friedlich nach Europa aufbrechen zu können, inszenieren Nobody und Beauregard ein Scheinduell, aus dem Nobody als Sieger hervorgeht. Auf dem Grabstein des vermeintlich toten, in Wahrheit aber quicklebendigen Beauregard ist zu lesen „Nobody was faster than him“ (Niemand zog schneller als er), eine Spielerei mit der semantischen Doppeldeutig von „niemand“ als Name.

Ob die Kinobesucher sich der Anklänge an den Mythos bewusst waren, mag dahingestellt sein – bei Sergio Leone, der bei diesem Film nicht Regie führte, aber eine Grundidee lieferte, setze ich das voraus.

Walter Ulbricht bewegte sich gedanklich dagegen sicher nicht in der Welt antiker Mythen, als er den Satz formulierte: „Niemand hat die Absicht eine Mauer zu bauen.“ Und an Odysseus haben auch Ton, Steine, Scherben wohl nicht gedacht, als sie Anfang der 70er Jahre des 20.Jahrhunderts ihrem legendären Doppel-Album den Titel gaben: „Keine Macht für Niemand.“   Aber vielleicht hätte Odysseus, dem Listenreichen, diese zu einer Hook-Zeile verkürzte Definition des Begriffs Anarchie ja gefallen, denn trotz seiner Kriegstaten: Im Herzen war er ja so etwas wie ein Öko-Bauer und , nun ja!, Teilzeit-Pazifist.  

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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