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3. Tag, vormittags

Ihr Gesicht war etwas zu asymmetrisch, ihre Nase etwas zu groß, ihre Lippen etwas zu schmal, ihre Augen etwas zu dunkel – aber sonst stimmte alles an ihr. Kurz: sie sah klasse aus. 100 von 100 Punkten auf meiner 100-Punkte Skala. Die Tonlage ihrer Stimme bei der Begrüßung war etwas zu tief: noch einmal 10 Extrapunkte.

Das hatte noch keine geschafft: die Schallmauer war durchbrochen, der Marianengraben tat sich auf, der Ätna spuckte Feuer, die Pyramiden von Gizeh stürzten ein. Sie hatte kaum meinen Namen ausgesprochen, da leuchteten auch schon alle 1300 Glühbirnen aus meinem vormaligen Lager gleichzeitig im Besprechungsraum auf und hüllten sie in einen 130000 Watt-Lichtbogen, als sei sie ein himmlischer Sendbote. Wenn sie jetzt auch noch Engel hieß, dann… Hieß sie aber nicht, wie ich dem Schild am Kittel entnehmen konnte. Dr. med. Anastasia Samantha Sauber stand da.

Ein undefinierbares Gefühl breitete sich in mir aus, eine Mischung aus leichten Magenschmerzen, Kopfsausen und Mattigkeit. Reagierte ich allergisch auf sie? Löste sie Reaktionen in mir aus wie Atemnot und Schwellungen von Gesicht, Zunge und Kehlkopf. Unwillkürlich fasste ich mir an den Hals, tastete mit der Zunge den Gaumen entlang, befühlte mein Gesicht. Nichts. Aber meine Atemfrequenz verlangsamte sich und mein Puls schien in eine Art Winterschlaf zu verfallen.

„Ist etwas nicht in Ordnung, Herr Schlehmann?“

„Doch, doch, alles in Ordnung – bis auf das Jucken.“

„Jucken?“

„Die Wäsche, verstehen Sie, die Unterwäsche, ich vertrage das Material nicht, meine Haut reagiert allergisch.“ Ich machte mit beiden Händen gleichzeitig ein paar halbherzige Kratzbewegungen am Oberkörper, um die Glaubwürdigkeit meiner Aussage zu unterstreichen.

liebeswahnIhr Blick presste mich förmlich in den Stuhl. Konnte sie vielleicht Gedanken lesen? Oder wusste sie, dass ich die Unterwäsche gar nicht trug, weil ich das Jucken und Kratzen leid war und es mir – gegen die Vorschriften natürlich – gestattet hatte, Unterhemd und Unterhose einfach weg zu lassen und nur den Anstaltsanzug aus Leinen zu tragen ? Hatte mein Zellennachbar Auto-Manni, dem das natürlich nicht verborgen geblieben war, gequatscht und das Gequatsche war bis zu ihr vorgedrungen?

„Ihre Atemfrequenz gefällt mir aber überhaupt nicht!“

Aber Frau Dr. gefiel mir. Und zwar von Satz zu Satz besser. Dieser Körper. Diese Stimme. Dieser Blick. Noch zwei oder drei Sätze, und diese Stimme würde meine Lungen implodieren oder explodieren lassen oder beides gleichzeitig, zumindest aber kalkulierte ich einen Herzstillstand ein.

„Vielleicht messe ich mal kurz Ihren Blutdruck und höre Sie ab, bevor wir mit der Sitzung beginnen!“

Ich konnte ihr ja wohl schlecht sagen, dass ich gerne mit etwas ganz anderem beginnen würde. Schließlich war ich zum ersten Therapiegespräch bei ihr. Und im Laufe der Gespräche sollte mich Frau Dr. med. (Neurologin, Psychiaterin, Psychotherapeutin) auf den Weg des nachhaltigen und ökologisch korrekten Denkens und Handelns führen.

Ja, sollte sie doch messen, mich abhören, auf meinen Lungenflügeln herum klopfen, mir einen Spatel auf die Zunge legen, mir in die Ohren schauen, mir mit einem Spreizer die Nasenlöcher weiten. Auch gegen eine Operation am offenen Herzen oder die Entnahme eines Körperorgans hätte ich mich nicht gewehrt. Sie hätte mich sogar aufs Rad flechten können, ohne dass ein Klagelaut über meine Lippen gekommen wäre.

„Dann machen Sie doch schon einmal den linken Arm frei“, wies sie mich an, während sie aus einem Seitenschrank ihres penibel aufgeräumten Schreibtisches eine Blutdruckmanschette und ein Stethoskop heraus holte. Ein Telefon, ein ultraflacher Laptop, einige Schreibwerkzeuge in einem aus drei verbundenen, unterschiedlich hohen Röhren bestehenden Organizer aus Pappe (recycelt) und ein Notizbuch mit schlichtem schwarzen Einband (recycelte Pappe) waren zweckmäßig auf der weißen Tischplatte angeordnet. Zwei kleine Bilder-Rahmen im „shabby-style“ bildeten einen Kontrapunkt zu der ansonsten sachlichen Ausstattung und erregten mein Interesse. Familienfotos ? Urlaubsbilder? Wohin sie wohl fuhr?

Sie legte mir die Manschette des Sphygmomanometers an, platzierte das Stethoskop und pumpte die Manschette auf. Als sie mich beim Anlegen der Manschette berührte, fuhr mein Herzschlag ein Stückchen weiter runter. Das Ablassen des Drucks begleitete sie mit einem sorgenvollen Blick, um dann zu sagen: „Nicht gut, nicht gut; das ist aber schon mehr als grenzwertig.“

Grenzwertig war eher, dass sie mir so nah gekommen war, dass ich das Fluidum ihres Körpers riechen und ihre Wärme auf meiner Haut spüren konnte. Dieser Geruch! Eine Mischung aus reifen Mirabellen und Mangos, überstäubt mit einem Hauch von hellem Kampot Rouge, der das süßliche Element der Früchte mit seiner intensiven pfeffrigen Note veredelte. Aber irgendwie hatte ich das dumpfe Gefühl, dass mir diese Komposition nicht gut tat. Mein Kopf füllte sich mit Watte. Und warum schlug mein Herz immer langsamer? Hätte es nicht umgekehrt sein müssen? Hätte es nicht rasen müssen, als sei ich auf der Flucht vor einem Dutzend GREEN-WATCHER?

„Vielleicht schließen wir auch noch ein EKG an. Aber zunächst höre ich Sie ab. Dafür müssen Sie aber den Oberkörper frei machen.“

„Ja, klar, mache ich. Von mir aus lege ich auch alles ab!“

Das dachte ich aber nur – denn schlagartig wurde mir klar, dass das Fehlen meiner Unterwäsche auffliegen würde. „Können wir das nicht verschieben, ich fühl mich doch nicht so gut, ich würde mich lieber lang machen, am besten in meiner Zelle.“ Wort für Wort, nahezu Silbe für Silbe musste ich durch die Zähne pressen, so schwer fiel mir das Sprechen. „Zelle? Zellen haben wir hier nicht- nur Privaträume und Gemeinschaftsräume“, korrigierte sie mich.

Toller Privatraum, den ich mir mit einem Auto-Verrückten teilen musste und der ab 22.30 Uhr verschlossen wurde.

„Wenn wir heute schon nicht zum ersten Therapiegespräch kommen, dann sollten wir die Zeit lieber für eine gründliche Untersuchung nutzen. Ich hole jetzt mal den EKG-Wagen aus dem Nebenraum und sie legen sich derweil auf die Liege am Fenster“, hörte ich sie wie von Ferne sagen.

Immerhin – ein paar Sekunden Aufschub. Während sie zum Nachbarraum schwebte, schleppte ich mich mühsam zur Liege und setzte mich. Jetzt konnte ich auf die beiden Fotos blicken – aber wie durch eine Nebelwand. In dem Nebel sah ich auf dem einen Foto einen attraktiven Mann vor einem Segelboot und auf dem zweiten einen Jungen und ein Mädchen, etwa sechs bis sieben Jahre alt, die sich ungemein ähnlich sahen. Eineiige Zwillinge.

Scheiße. Ihr Kerl und ihre Kinder, dachte ich in einem kleinen Areal meines Gehirns, das noch nicht mit Watte angefüllt war.

Sie rollte das EKG-Gerät herein. „Sie haben sich ja immer noch nicht frei gemacht, und hingelegt haben Sie sich auch nicht.“ Sie fuhr den Wagen in Position und kam mir wieder ganz nah, so dass sich ihr Geruch auf mich legte.

„Dann knöpfen Sie mal bitte die Jacke auf. Ich will Sie…“

Ja, ich wollte sie ja auch. Aber den letzten Teil ihres Satzes hörte ich schon nicht mehr. Mit einem traurigen Blick auf die beiden Fotos kippte ich langsam auf den Schreibtisch zu, und mein Versuch, den Namen Anastasia auszusprechen, strandete bei einem verwaschenen, unartikulierten „Stasi“. Ich hatte es mal wieder versaut, aber gründlich. Ein schwarzer Vorhang schloss sich und wehte einen Schleier von Kampot Rouge gegen mein Hirn, untermalt vom Klang eines Gongs, wie er in Battangbang morgens um vier Uhr zur Vipassana-Meditation ruft.{jcomments on}

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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