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 Ach, war das herzzerreißend: da steht dieser Millionen-Geschäftsmann, dieser Boss, dieser auf Attacke gepolte Wurstbaron am Mikrophon und weint. Wenn man es nicht besser wüsste, hätte man meinen können, man sei aus Versehen in eine Folge dieser Vorabendserien oder in eine Pilcher-Verfilmung des ZDF gerutscht. War es aber nicht – es war nur eine Mitgliederversammlung des Fußballbranchen- und Tabellenführers Bayern München.

Und soeben hatte Kalle Rummenigge (übrigens wegen nicht deklarierter Einfuhr zweier Luxusuhren zu 150 Tagessätzen verurteilt und damit, weil über 90 Tagessätzen liegend, vorbestraft) eine Lobeshymne auf den Uli gesungen. Und nun prasselte der Beifall der zweitausend Mitglieder auf den Uli nieder – auf diesen guten Kerl.

Und da musste er halt weinen! Vor Freude und Rührung natürlich!

Und als er sich etwas gesammelt hatte, ging er gleich wieder zur Attacke über, erzählte davon, was er alles Gutes getan habe (Spenden) und dass er sich im Grunde nichts vorzuwerfen habe, weil er doch immer brav seine Steuern bezahlt habe usw. usf.

Und dann kündigte er an, dass er – im Falle einer Verurteilung – die Entscheidung darüber, ob er sein Amt niederlegen solle, den Vereinsmitgliedern überlassen wolle. Bei dem darauf hin aufbrausenden Beifall weiß man jetzt schon, wie die Mitglieder entscheiden werden.

Das ist ein grandioser Einfall: eine Volksabstimmung als Exkulpationsmaschine, die Übergabe von Verantwortung für eigenes Handeln in die Hände des Volkes. Hier legt nicht ein Priester seine Hände auf den Bock, um diesem symbolisch die Sünden zu übertragen und ihn dann in die Wüste zu schicken, sondern hier sollen sich Hände heben, um den Sünder frei zu sprechen und stattdessen die moralische Eigenverantwortung in die Wüste zu schicken.

Vielleicht ist es in diesem Zusammenhang lohnenswert, einen Blick auf andere Beispiele zu werfen, darauf also, wie andere mit ihrer Verantwortung umgegangen sind.

Beginnen wir mit Frau Käßmann, der ehemaligen Ratsvorsitzenden der EKD. Diese ist – wir erinnern uns noch? – bei einer Autofahrt mit 1,5 Promille Alkohol im Blut von der Polizei angehalten worden.

Frau Käßmann wurde zu 30 Tagessätzen verurteilt und verlor für 9 Monate die Fahrerlaubnis. Noch vor ihrer Verurteilung hat Frau Käßmann ihr Verhalten als schlimmen Fehler, gefährlich und unverantwortlich gekennzeichnet und ist von ihrem Amt zurückgetreten – und dies, obwohl der Rat der EKD ihr einstimmig (!!) das Vertrauen ausgesprochen hatte.

Ich erwähne diesen Fall hier deshalb, weil das Fahren mit Alkohol im Blut landläufig gerne als „Kavaliersdelikt“ gesehen wird (jedenfalls, wenn es einen Mann betrifft). Frau Käßmann hätte also vielleicht darauf setzen können, dass das „Volk“ sagen würde: na ja, kann ja mal vorkommen, ein Ausrutscher halt, der täglich passiert. Hat sie aber nicht. Obwohl sie niemanden geschädigt hat (was natürlich hätte passieren können), hat sie eine einschneidende Konsequenz aus ihrem Verhalten gezogen, sie hat die Verantwortung für ihr Tun übernommen.

Gerade in diesen Tagen kommt man natürlich nicht an Willy Brandt vorbei (hundertster Geburtstag im Dezember). Sein Verhalten ist in zweifacher Hinsicht erwähnenswert.

Am 7.12.1970 kommt es zu seinem berühmten Kniefall am Ehrenmal für die Kämpfer des Warschauer Ghettos.

Was ist das Besondere daran?

Aus meiner Sicht der Umstand, dass sich hier ausgerechnet jemand als Repräsentant der Deutschen zur Verantwortung für die Kriegsverbrechen bekennt, der selbst keine Schuld auf sich geladen hat, ja, vielmehr noch: jemand der als politischer Flüchtling aktiv gegen die Nazis gekämpft hat – nicht nur durch das Verfassen von Artikeln in skandinavischen Zeitungen, sondern auch dadurch, dass er sich zeitweilig unter falschem Namen und unter Lebensgefahr in Deutschland zur Nazi-Zeit aufgehalten hat, um den Widerstand zu befördern – und dafür in der Heimat auch noch nach dem Ende der Nazi-Herrschaft angepöbelt worden ist.

Brandt hat durch diese Geste die Sünden auf sich genommen, die andere begangen haben, er hat um Verzeihung für etwas gebeten, an dem er persönlich keinen Anteil hatte.

Durch den Akt des Kniefalls hat er sich klein gemacht und ist dadurch groß geworden!

Oder biblisch gesprochen: er hat sich selbst erniedrigt und ist dadurch erhöht worden. Und er ist dieser Linie treu geblieben mit seinem Rücktritt (7.Mai 1974) im Zuge der sog. Guillaume-Affäre. Hier hat er die Verantwortung nicht auf nachgeordnete Personen (auf Ämter wie den BND oder den Verfassungsschutz) abgeschoben, was er leicht hätte tun können, sondern die politische Verantwortung selbst übernommen- und das nach einem überwältigenden Wahlsieg und mit hohen Beliebtheitswerten beim Volk (die inneren Spannungen des Führungstrios Brandt, Wehner, Schmidt lasse ich in diesem Zusammenhang ebenso außen vor wie die Behauptungen, er sei amtsmüde und zeitweilig depressiv gewesen und deshalb zurückgetreten).

Mindestens ebenso beliebt beim Volk wie Brandt war- jedenfalls ist es so bei Sophokles angelegt – Ödipus als König von Theben.

winnetouDer gilt mir als Musterbeispiel für Verantwortung. Sein Schicksal und sein Verhalten werfen nämlich den Umgang damit im fünften vorchristlichen Jahrhundert in literarischer Gestaltung grundsätzlich auf.

Ödipus hat seinen Vater getötet und mit seiner Mutter vier Kinder gezeugt – ein Verstoß gegen zwei Fundamentaltabus. Was ist daran in unserem Zusammenhang von Interesse?

Zunächst: die Tötung des – ihm ja unbekannten – Vaters erfolgt in einem Akt der Notwehr, denn Ödipus tötet Laios und seine Begleiter als er von diesen auf seiner Wanderung angegriffen wird.

Zweitens: ebenso wie sein Vater ist ihm seine (leibliche) Mutter unbekannt- er zeugt die vier Kinder also ohne zu wissen, dass die Mutter seiner Kinder auch seine Mutter ist.

Drittens: Als Ödipus vom Orakel erfährt, dass er seinen Vater töten und mit seiner Mutter Kinder zeugen werde, verlässt er, um genau das zu vermeiden, seine vermeintlichen Eltern (die aber nur seine „Pflegeeltern“ sind, was er nicht weiß) und geht ins Exil (und genau dadurch ins Unglück).

Viertens: all das vollzieht sich, weil ein Fluch über seiner Familie liegt, ausgelöst durch eine frühere Freveltat seines leiblichen Vaters Laios.

Weil das so ist, wird ihm im Drama des Sophokles an keiner Stelle und von niemandem Schuld zugesprochen, bei ihm geht es vielmehr um „hamartía“ (eine furchtbare und befleckende Handlung ohne subjektive Schuld). Darin liegt wohl auch der Grund, warum Sophokles die Fortsetzung des Dramas (das eher selten aufgeführte Werk „Ödipus auf Kolonos“) so anlegt, dass der blinde Ödipus nach langer Zeit der Wanderung im Exil von den Göttern in den Olymp erhoben wird.

Gleichwohl: ohne also – im engeren Sinne – schuldig zu sein, nimmt Ödipus Schuld auf sich. Als er seinen Taten und damit sich selbst durch die von ihm selbst (!!!) vorangetriebene Recherche auf die Spur gekommen ist, blendet er sich und fordert Kreon auf, die zuvor angekündigte Strafe (Tod oder Verstoßung) an ihm zu vollziehen, was Kreon jedoch zunächst unterlässt.

Kurz und gut: hier übernimmt jemand Schuld für etwas, was im – heutigen – strafrechtlichen Sinne kaum als Schuld zu bezeichnen ist, stellt sich aber einer Verantwortung für sich selbst mit äußerster Konsequenz.

Warum legt Sophokles den Fall so an?

Letztlich weil es um die Frage geht: Was ist der Mensch?

Diese Frage hat Ödipus als Antwort auf das berühmte Rätsel der Sphinx nämlich nur halb gegeben: Was ist das? Es bewegt sich morgens auf vier Beinen, mittags auf zwei und abends auf drei Beinen? Ödipus´ Antwort: Der Mensch (als Kleinkind kriecht er, als Erwachsener geht er auf zwei Beinen, im Alter auf drei Beinen- mit Gehstock inklusive).

Diese Antwort ist insofern nur teilweise richtig, weil sie den Menschen auf das Mechanisch-Motorische seiner Existenz, einen biologischen Prozess reduziert. Der Mensch ist aber auch einer Moral verpflichtet, er ist geistig-sittliches Wesen und lebt in Sophokles´ Zeiten natürlich in einer von Göttern bestimmten Welt.

Dennoch – oder gerade deshalb – muss er für seine Entscheidungen die Konsequenzen tragen, Verantwortung schultern und Hybris vermeiden. Und genau letzteres tut Hoeneß nicht. Indem er die Entscheidung über seinen Verbleib im Amt „in die Hände des Volkes“ legt, gibt er die Selbstverantwortung auf, legt Zeugnis ab von einer Hybris, die moralische Grundsätze nicht anerkennt, erhöht sich selbst mit seinem durchsichtigen Manöver zum „Super-Demokraten“.

Damit ist er bereits gestürzt – aber die Fallhöhe eines Ödipus hat er natürlich nicht!{jcomments on}

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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