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Das erste Jahrhundert im dritten Jahrtausend unserer Zeitrechnung hat offensichtlich eine Phase des „allmählichen Verschwindens der Demokratie“ eingeleitet.

Titian Sysyphus Prado MuseumEin Indiz dafür ist abnehmende Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an den Wahlen der Parlamente in Europa, Bund und Ländern sowie für die Räte der Kommunen. Offensichtlich können die Mitglieder dieser Volksvertretungen – vorsichtig ausgedrückt – ihre politischen Ziele mit Hilfe ihrer Parteien den Wählerinnen und Wählern nicht mehr verständlich vermitteln.

 

Mit der deutschen Wiedervereinigung und den wirtschaftlichen Folgen der Globalisierung für Kapital und Arbeit hat offensichtlich das Interesse der Menschen an Politik in den 1990er Jahren kontinuierlich und spürbar nachgelassen. Die gegen den Sozialstaat gerichtete Politik mit Slogans wie „Privat vor Staat“ oder die Verkündigung des neoliberalen Dogmas einer „marktkonformen Demokratie“ hat zu einer regional zwar unterschiedlich ausgeprägten, aber insgesamt größer werdenden Kluft der Gesellschaft in „Arme und Reiche“ geführt. Eine Stadt wie Gelsenkirchen ist davon besonders betroffen. Die seit Jahren anhaltende hohe strukturelle Arbeitslosigkeit hat die Sozialkosten in einem Maße ansteigen lassen, dass das Haushaltsdefizit zu einer Dauerbelastung geworden ist und dringende Infrastrukturaufgaben immer wieder aufgeschoben werden müssen.

 

Über diese Probleme, ihre Ursachen und Folgen werden die Bürgerinnen und Bürger nicht mehr durch die dafür nach dem Grundgesetz zuständigen Parteien aufgeklärt. Dort heißt es: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ Das ist seit 1949 die Grundlage für die „Parteiendemokratie“ in der Bundesrepublik Deutschland. Und genau dafür wurde vor 150 Jahren die SPD gegründet. Dafür hat sie als Arbeiter- und später als Volkspartei mit den anderen Parteien erfolgreich gestritten. Politische Bildung wurde nach dem 2. Weltkrieg zur zentralen Aufgabe für alle Parteien in der Bundesrepublik.

 

Doch was ist daraus geworden? Spätestens seit der „Wende“ haben die Parteien diese aufklärende Funktion für die Demokratie großzügig den Medien zur Pflege des „Starkults“ mit Politikern und Experten überlassen, um einem personalisierten Politikverständnis durch politische Scheingefechte in „Talkshows, dem Trend zur „Spassgesellschaft“ Nachdruck zu verleihen. Über die politische Sache wird der Souverän, die Wählerin und der Wähler, im Unklaren gelassen. Die Folgen sind: Orientierungslosigkeit, Politik- und Parteienverdrossenheit und das allmähliche Verschwinden des demokratischen Denkens und Handelns aus der Gesellschaft, weil politische Entscheidungen vom „Wahlvolk“ nicht mehr nachvollzogen werden können.

 

Diese Entwicklung lässt sich an den Mitgliederzahlen der beiden großen Parteien SPD und CDU sehr gut nachvollziehen. Zum Zeitpunkt der „Wende“ lagen sie bei 943 000 bzw. 790 000. Danach gingen sie in beiden Parteien stetig zurück und lagen 2011 gleichauf bei 490 000. Sie hatten sich in 20 Jahren bei der SPD um 50 % und bei der CDU um knapp 40 % reduziert. Und das, obwohl sich durch die Vereinigung von Ost- und Westdeutschland die Einwohnerzahlen um 16,5 auf 82 Mio erhöht hatten

 

Die Parteien konzentrieren ihre politische Arbeit seitdem auf die Demokratie als Staats- und Regierungsform. Darunter verstehen sie vor allem die Kandidatenauswahl für Parlaments- und Ratswahlen, während die Vermittlung und Diskussion (partei)politischer Inhalte immer mehr in den Hintergrund geraten und die Wahrnehmung einer politischen Mitwirkung durch die Partei-Mitglieder, die sogenannte „innerparteiliche Demokratie“ zur ritualisierten Formsache geworden ist.

 

Für die Demokratie reicht es nicht, lediglich alle vier oder fünf Jahre neue Parlamente und Räte zu wählen. Mündige Bürgerinnen und Bürger geben sich damit nicht zufrieden. Sie wollen ernst genommen und an der Gestaltung des Gemeinwesens beteiligt werden. Dazu müssen neue zivilgesellschaftliche Möglichkeiten für eine selbstbestimmte Mitwirkung geschaffen werden.

 

Diese Idee liegt dem Projekt „Steinbruch: Demokratie“ zugrunde. Es ist der Versuch, die traditionellen Formen zivilgesellschaftlicher Aktivitäten kultureller und sozialer Art in zeitgemäßer offener Form wieder zu beleben, um nicht alles den Ämtern und Institutionen, der Bürokratie und den Experten zu überlassen, sondern selbst Ideen zu entwickeln und auch ihre Umsetzung selbst in die Hand zu nehmen.

 

Der „Steinbruch“ versteht sich nicht als „Event“ in der Spassgesellschaft, sondern als demokratische Alternative zum „Vollstreckungshandeln der Exekutive. Er will eine „Baustelle der Demokratie“ sein, auf der die Bürgerinnen und Bürger mit demokratischer Lust, d.h. kritisch und konstruktiv zusammenarbeiten, um gemeinwesenorientierte Projekte zu realisieren.

 

Demokratie ist mehr als nur eine Staatsform, sie muss, wenn sie auf Dauer Bestand haben soll, auch die Lebensform der Gesellschaft sein. {jcomments on}

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Von Peter Rose

H. Peter Rose, geboren 1935 in Hattingen (Ruhr). Volksschule und Handelsschule. Lehre und Berufstätigkeit als Industriekaufmann. Studium der Soziologie und Volkswirtschaftslehre an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg, Abschluss als Diplom-Sozialwirt. 1964 Kulturreferent beim SPD-Parteivorstand in Bonn. Ab 1971 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Beraterstab beim Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Heinz Kühn. Von 1975 bis 2000 Beigeordneter für Kultur und Bildung, Jugend und Soziales der Stadt Gelsenkirchen. Seit Oktober 2000 nicht mehr abhängig beschäftigt, aber weiterhin zivilgesellschaftlich beratend auf den Feldern Kunst und Kultur sowie politischer und kultureller Bildung aktiv.

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