Rotthäuser Leidensspiele

Blut, Schweiß, Tränen und weitere Körperausscheidungen fließen, wenn junge Männer in vielen Orten Mexikos in der Karwoche stundenlang in der Hitze ihre Kreuze schleppen.

Folteropfer in Abu GhraibDornenkronen ritzen ihnen die Kopfhaut auf, die Geißeln der Begleiter martern den Rücken. Schmerz, Angst, Leid liegt in der Luft und mischt sich mit Ehrfurcht, Andacht und heiligem Ernst des Publikums dieser Passionspiele.

Auf den Philippinen geht man noch einen Schritt weiter und lässt sich ans Kreuz nageln, um Zeugnis seiner religiösen Zugehörigkeit abzulegen.

Schiitische Passionsspiele kommen ohne Kreuz aus, dafür gibt es kollektives Weinen und Klagen, Martyrium durch Selbstgeißelung. Woanders schiebt man sich 20 Zentimeter lange Nägel durch den Kopf, Spieße durch alle möglichen Körperteile, fällt wahlweise in Ekstase, Verzückung, Trance, tanzt mit Klapperschlangen oder hält Jahrzehnte einen Arm hoch, bis er schwarz, dürr und unbeweglich geworden ist.

Gott oder Göttern nah zu sein, andere Sphären oder Dimensionen zu betreten, gibt es viele Wege. Die meisten sind uns fremd geworden und lassen uns Dank Aufklärung und Kapitalismus schaudern, den Kopf schütteln. Die martialische, bedingungslose Selbstaufgabe ist ökonomisch kontraproduktiv und wird deshalb in einer arbeitsteiligen Gesellschaft schauspielernden Stellvertretern übertragen.

Mal als Mischung aus Live-Las-Vegas-Hollywood Show, mit Stunts und eingebauter Himmelfahrt, mal als exzessives Folter- und Gewaltdrama wie Mel Gibsons Jesus Film. Aber immer ist ein Millionen-Publikum sicher.

Oberammergau, die Mutter aller Leidensspiele, findet nun in der Mitte des Ruhrgebietes statt. Der Schauspieler, Märchen und -Musical Regisseur Elmar Rasch inszeniert in einer Gelsenkirchener Kirche mit 30 Laien das Leiden Christi und hofft auf ein großes Stück vom Publikums-Kuchen.

Herrkules hat sich das Spiel angeschaut und sprach anschließend mit dem Spielleiter.

 

Der Plot:

Ausschnitt Sankt Matthäus Kirche Kopenhagender charismatische Wanderprediger, sanfte Revolutionär und Weisheitslehrer Jesus (geboren wahrscheinlich 4 vor Christus, Geburtsort unbekannt, gestorben 30 oder 31 nach Christus in Jerusalem) wirbt in Galiläa und Judäa für eine Neujustierung des Miteinanders der Menschen und macht sich damit die herrschende Elite seines Landes zum Feind. Nach anfänglichen Erfolgen verraten ihn die Seinen. Die Besatzungsmacht unter dem römischen Präfekten von Judäa, Pontius Pilatus, tötet ihn durch Kreuzigung.

Der Text:

35 Jahre nach den Ereignissen begannen erste Autoren aus der Jesusbewegung ihre Arbeiten an einer literarischen Fiktion namens „Passionsgeschichte,“ an deren Ende nach drei Jahrzehnten ein wirkmächtiges Stück Weltliteratur vorlag. Ziel war es, den gescheiterten Menschen Jesus zu einem Propheten zu stilisieren. Rasch mischt diese „Original-Prosa“ mit während der Probenarbeiten entstandenen Texten, die innere Konflikte und Beweggründe der Protagonisten erläutern sollen.

Die Inszenierung:

Raschs Inszenierung adaptiert die Oberammergauer Vorlage und bietet dem entsprechend die im laufe der Jahrhunderte zu unantastbaren Dogmen geronnenen Mythen und Metaphern mit einem 30köpfigen Ensemble aus Profis und Laiendarstellern als naturalistische Nacherzählung in der evangelischen Kirche in Gelsenkirchen Rotthausen dar.

Wer der 2000jährigen christlichen Prägung unseres kollektiven Gedächtnisses nachspüren will, bekommt hier viele Aspekte verdichtet angeboten. Wer gediegen gemachtes Volkstheater mag, vor Überraschungen sicher sein will, tradierte gedankliche Trampelpfade liebt, kommt bei diesem Event auf seine Kosten.

Einige Darsteller bestechen durch ihre Bühnenpräsenz, alle sind mit großem Engagement dabei, haben erkennbar viel Herzblut in die Aufführung einfließen lassen, es gibt Blitz und Donner, Peitschengeknall, Rotlicht und Hahnengekräh, Duduk und Gesang.

Passend zum Thema kalt und ungemütlich ist es in der Kirche, nach 30 Minuten folgt eine längere Pause. Wer sich fragt was dieses Spiel einer Stadt mit Endzeitstimmung geben soll, wird ratlos bleiben.

Wer irgendeine neue Perspektive erwartet, eine andere Deutung, eine Hinterfragung, wird dieser mutlosen Inszenierung nichts abgewinnen können.

Als Warm-Up fällt mit der Kraft des Urknalls Johannes der Täufer, (Marlon Böshers) in die Szenerie ein, predigt, wütet, schimpft, tobt, lockt, mahnt und verführt zur Taufe.

Jesus und KaiphasFleisch trifft Geist, lautet dann auch unüberhör und -sehbar die Botschaft, wenn Jesus, gespielt von Jesse Krauß, erscheint. Krauß, ein fast kachektischer, ungetaufter atheistischer multibegabter Ausnahmekünstler, spielt die Figur ätherisch-stoisch mit kaum modulierter Stimme und wenig Überzeugungsdruck.

Mit dieser Wahl erfüllt Rasch aber genialisch die Publikumserwartung und legt gleichzeitig seinem Stück enge Fesseln an. Hier kann nichts anderes mehr kommen als die Bedienung aller Klischees über den Heiland.

Die zweite Fehlbesetzung ist dann auch konsequenterweise die andere tragende Gestalt der Passionsgeschichte: Judas – gespielt von Alexander Welp.

Den Überzeugungstäter für die höhere Sache nimmt man ihm an keiner Stelle ab, die inneren Kämpfe werden zu exaltiert gespielt und zu langatmig monologisiert. Statt eines Diskurses über Prädestination kontra Freiheit des Willens, wurde, wie zu erwarten, einseitig der Reue Aspekt beleuchtet.

Jens Dornheim als Pilatus kommt so präsent und souverän daher wie Wolf Rainer Borkowski, der einen raumfüllenden Kaiphas gibt. Christina Lehmann überzeugt als Erzählerin.

Weitere Rezensionen:

Rolf Dennemann

Katharina Blätgen

Elisabeth Höving

Herrkules:

Herr Rasch, in Oberammergau war die Pest Anlass für die Passionsspiele. Welche Katastrophe hat Gelsenkirchen heimgesucht, dass Sie die Spiele hier verankern wollen? Was ist das NEUE an Ihrer Inszenierung eines alten Stoffes?

Elmar Rasch:

Eine Gelsenkirchener Katastrophe sind die fehlenden Spielstätten und Begegnungsorte an denen Kultur ausgetauscht werden kann. Ich fand nach langer Suche einen Probenraum in einer leerstehende Kirche und daraus ergab sich fast zwangsläufig meine Idee der Passionsspiele. Die Forderung nach dem Neuen, dem Experimentellen, dem Revolutionären kommt flott aus dem Feuilleton in Richtung freier Theater. Die ökonomischen Zwänge werden dabei aber übersehen. Geben Sie mir einen potenten Mäzen, verbeamten Sie mich, dann inszeniere ich experimentelle Revolte, mit oder ohne Publikum. Ich bin darauf angewiesen, dass Kosten gedeckt werden, folglich muss ich Mainstream machen. Das überwiegend ältere Publikum und auch die überwiegend älteren Schauspieler wollen und mögen das was wir machen. Wir haben mittlerweile ein 150 km großes Einzugsgebiet.

Herrkules:

Kann man nach „Das Leben des Brian“ die Passionsgeschichte überhaupt noch ungebrochen ohne Verfremdung erzählen?

Elmar Rasch:

Sicher, alles ist machbar. Noch wird man ja nicht schon wieder wegen Blasphemie gesteinigt. Man kann die Erwartungshaltung eines großen Publikums abdecken oder, wenn nichts mehr geht und einem nichts mehr einfällt, einen Witz auf Kirche oder Papst inszenieren. Das jeweilig passende Publikum findet sich immer.

Herrkules:

Am Anfang war die Zensur und die beschloss, welche Evangelien den heutigen Kanon bilden durften und welche unter den Tisch fielen. Muss ein Künstler aus Verpflichtung seinem Publikum und der Wahrheit gegenüber nicht die Zensur aufheben?

Elmar Rasch:

Ich habe nur die vier Evangelien zu Grunde gelegt und einige Passagen von Zuckmayer und Bulgakov eingeflochten.

Herrkules:

Warum greifen Sie die schon lange zirkulierenden Ansätze der popularisierenden Massenmedien nicht auf und zeigen Maria Magdalena als Jesus´ Frau. Dan Brown setzt sie in Da Vincis Abendmahl statt dem Jünger Johannes an die Seite von Jesus…….

Elmar Rasch:

… aus unspektakulären, banalen Sachzwängen. Die dünne Personaldecke erlaubte nur ein „kleines Abendmahl“ reduziert auf Judas, Jesus und eine Erzählerin. Ich musste mich auf das Kernthema des Verrats konzentrieren….

Herrkules:

…. „Verrat“ ohne den es keine Erlösung gäbe, ohne den die Kreuzigung nicht stattgefunden hätte, ohne den es keine Christen gäbe. Wäre hier nicht geboten gewesen, die „Schuldfrage“ unter dem  Aspekt der Prädestination und des freien Willens zu behandeln?

Elmar Rasch:

Indirekt ist es Thema, er ist jung, naiv, weiß nicht was er tut, will die Revolution und lebt in der Illusion, die Besatzungsmacht vertreiben zu können. Am Ende muss er hilflos zusehen, dass aus aus seinen guten Vorsätzen das Schlechte erwächst.

Herrkules:

Wer sind heute die Römer, wer die Pharisäer, Schriftgelehrten?

Elmar Rasch:

Die Wirtschaft, Finanzjongleure sind die Römer, weite Teile der Politik wird durch Heuchler gespeist, allerlei Schrift- und Wortkünstler deuten gelehrt was Wirtschaft und Politik sie deuten lässt.

Diese ganz hohen Herren mit ihren extremen Ego’s , die täglich Konzepte entwickeln, wie sie das Volk am geschicktesten bescheissen, die gab es sicher auch im damaligen Hohen Rat. Uns fehlt Respektbewusstsein, jeder versucht dem anderen aus Profilierungssucht an die Karre zu pinkeln. Wir haben keine Typen mehr, die man als zeitgeistliche Verkünder betrachten könnte, … naja, vielleicht war Rudi Dutschke noch so einer…

Herrkules:

War Jesus Lamm oder Revoluzzer?

Elmar Rasch:

Sowohl als auch. Ich zeige ihn sanft, zornig, zynisch, austeilend.

Herrkules:

Dann wissen Sie sicher auch, was er zwischen dem zwölften und dreißigsten Lebensjahr gemacht hat, in wen er sich verliebte, wie er zu sich fand…

Elmar Rasch:

.. über seine erste große Liebe weiß ich nichts. Eine Playstation wird er nicht gehabt haben. Ich vermute dass er hauptsächlich unterwegs, auf der Flucht war und seine Sinne und Gedanken dadurch geschärft wurden. Ständige Ausgrenzung führt – ja, das Sein bestimmt auch das Bewusstsein – zu revolutionäreren Sichtweisen, als ein Leben in angepassten, geordneten Verhältnissen.

Herrkules:

Welche Sekundärliteratur hat Sie am meisten bei Ihrer Inszenierung beeinflusst? „Ein Mensch namens Jesus“ von Gerald Messadie wohl kaum?

Elmar Rasch:

Richtig. Ich habe mich auf Primär-Quellen gestützt.

Herrkules:

Wie hoch sind Ihre Produktionskosten und wie viel davon kommt aus dem Kulturcent?

Elmar Rasch:

Die Produktion kostet 30 000 Euro, wir brauchen 2000 Zuschauer, um die Kosten zu decken, sind also auf einem guten Weg um schwarze Zahlen zu schreiben.

Herrkules:

Wir danken für das Gespräch

Elmar Rasch:

Bitte und gerne geschehen.

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