Wir nähern uns dem Ende des Dramas, das gleichzeitig der Anfang für ein neues Kapitel der Gelsenkirchener SPD-Geschichte war. Hatte im Prinzip das Jahr 1971 die programmatischen Weichen für eine innerparteiliche Veränderung gestellt, so waren die Jahre 73/74 die Jahre der praktischen Entscheidungen, die den „ideologischen Überbau“ in konkrete Machtverschiebungen umsetzten.
Diese wurden vorbereitet und getragen durch intensive Basisarbeit. Mittlerweile hatte sich nämlich in fast jedem der damals 28 Gelsenkirchener SPD-Ortsvereine die grundlegende Fraktionierung abgebildet. Das heißt: In praktisch jedem Ortsverein gab es zwei Gruppen, die sich jeweils „links“ oder „rechts“ einordneten – wegen der Übersichtlichkeit der Darstellung sei diese Versimpelung gestattet.
Während die „Rechten“ um den Erhalt ihrer Bastionen kämpften, wollten die „Linken“ die Vorstands- und Delegiertenmandate erobern. Das war in der Regel ein zähes Geschäft, bei dem es kaum um umsturzartige Wechsel, sondern durchweg um kleine Schritte ging, die erst in ihrer Summe zu spürbaren Kurskorrekturen führten.
Um nur ein bezeichnendes Datum zu nennen: Ich brauchte in meinem Ortsverein Bulmke geschlagene sechs Jahre (!), um ordentlich gewählter Delegierter zum Parteitag zu werden. Dabei war es selbstverständlich, dass man trotz der vielen Niederlagen in den diversen OV-Wahlen bei der Stange blieb und die berühmt-berüchtigte „Ochsentour“ machte (vom Unterkassierer zum Bildungsobmann). Vergleicht man das mit heute, ist das kaum mehr zu glauben. Denn sollte heute einmal ein junges Gesicht im Ortsverein auftauchen, so wird alles getan, um ihm/ihr sofort die Funktionen auf dem Silbertablett zu servieren. Natürlich ist es gut, wenn neue Mitglieder möglichst schnell in die Arbeit eingebunden werden. Andererseits hat das für die politische Sozialisation auch Nachteile, denn das in der Politik unbedingt notwendige Durchhaltevermögen wird dadurch nicht gefördert. Doch das ist ein anderes Thema.
Die innerparteiliche Konfliktlage führte dazu, dass die ansonsten routinemäßig und lustlos durchgeführten Jahreshauptversammlungen in den OVs zu wahren Rennern wurden. Jede Gruppe mobilisierte ihre Anhänger, und die Tagungsräume waren plötzlich nicht nur rappelvoll, sondern die Versammlungen wurden auch erheblich länger, ja sie zogen sich z. T. bis nach Mitternacht hin. Streckenweise spielten sich dramatische Szenen ab, wenn z. B. die damalige Bulmker Stadtverordnete Friedel Pfeiffer (Löbbert-Gruppe) ihre schon betagten und todmüden Genossinnen aus dem Seniorenheim an der Deichstraße händeringend zum Bleiben nötigte, weil die wichtigen Wahlgänge auch um 23.30 Uhr immer noch nicht abgeschlossen waren.
An diesem Beispiel zeigt sich ein Gesetz, das generell für die (zivilisierte) Austragung von Konflikten gilt: Je verbissener der Kampf wird, desto formaler wird er! Hatte man sich in den ruhigen Zeiten satter innerparteilicher Mehrheiten nur marginal um Satzungsfragen und Wahlmodalitäten gekümmert, so rückten sie jetzt ins Zentrum. Notwendig war das allemal, weil die innerparteiliche Demokratie der damaligen SPD neben anderem darunter litt, dass fundamentale demokratische Grundprinzipien nicht oder nur unzulänglich beachtet wurden. Z. B. waren geheime Wahlen in nicht wenigen Ortsvereinen zum Fremdwort geworden. Das wurde eben zügig per Akklamation erledigt, wollte man doch schnell wieder zu Hause sein oder zum geselligen Teil an der Theke übergehen. Dem schoben wir einen Riegel vor, weil wir strikt auf die Durchführung demokratischer Verfahren bestanden.
Da sich in einer Demokratie auch die Inhaber der Macht dem nicht verschließen können, erlebte die Satzung allüberall eine Renaissance – allerdings mit der nicht vermeidbaren Folge, dass die Versammlungen nun deutlich mehr Zeit ins Anspruch nahmen. In dieser Zeit waren Parteiwahlen vor Ort auch oft verwoben mit der UB-Ebene.
Ich erinnere mich noch besonders an eine Jahreshauptversammlung des Ortsvereins Rotthausen, dem Heimat-OV von Jupp Löbbert und Werner Kuhlmann. Sie fand an einem Sonntag im Saal des Volkshauses Rotthausen statt. Das geschah nicht von ungefähr, strömten doch sage und schreibe mehr als 400 (!) Mitglieder zur Wahlurne. Das waren ca. Zweidrittel aller Ortsvereinsmitglieder! Heute ist es praktisch nicht mehr vorstellbar, dass bei der Wahl eines simplen Ortsvorstandes plus Delegiertenwahl diese Massen zu bewegen sind – abgesehen davon, dass es solch großen Ortsvereine mit über 600 Mitgliedern auch gar nicht mehr gibt.
Bei dieser Versammlung tauchte der halbe UB-Vorstand auf, um die Abläufe mit Argusaugen zu verfolgen. Wir wollten jede Form von Manipulation im Keim ersticken, während wiederum wir von den anderen minutiös observiert wurden. Wie das Ganze mit welchen Ergebnissen ausging, kann ich nicht mehr sagen. Generell kann ich aber feststellen, dass eines der positiven Ergebnisse unserer „Revolution“ die akribische Beachtung der demokratischen Spielregeln in der SPD war. Dies wirkt auch dreißig Jahre später nach, und es gibt keine SPD-Gruppierung in Gelsenkirchen, für die das nicht selbstverständlich ist.