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Vorbemerkung: Die Diskussion über die Zukunft der Revierstädte unter dem Aspekt der bekannten Probleme (Bevölkerungsrückgang, Überalterung etc.) darf meiner Meinung nach nicht bei städtebaulichen Korrekturen (z. B. Rückbau) und bei Überlegungen, Sozialangebote den neuen Bedingungen anzupassen, stehen bleiben.

Ich bin überzeugt: Nur eine neue politische Struktur des Ruhrgebiets, die in einem neuen Bewusstsein über das Gemeinwesen „Ruhrstadt“ verankert sein muss, wird einen entscheidenden Innovationsschub bringen. Wie das aussehen könnte? Die folgende kleine Utopie mag dies veranschaulichen. Viel Spaß beim Lesen!

Hans Frey

Von der Ruhrstadt zu Ruhrtopolis Ein Rückblick aus dem Jahr 2050

Aus heutiger Sicht – wir schreiben das Jahr 2050 – stellte die Produktion und Aufführung der Ruhrtopia Revue zu Beginn des Jahrhunderts die intellektuelle und emotionale Initialzündung für das NEUE Ruhrgebiet dar. Sie hatte nicht nur bei den Menschen des Reviers ein neues Selbstbewusstsein, eine umfassende Lust auf Zukunft und Innovation und ein besseres Verständnis für Kommunikation und Zusammenarbeit geschaffen, sondern zugleich auch der staunenden Welt gezeigt, welch ein ungeheures Potenzial in dieser Region steckte. Die Folgewirkungen des genialen Gedankens, ein kulturelles Großereignis zum Katalysator für neue Entwicklungen werden zu lassen, waren enorm. Es entstand eine regelrechte Bewegung, die als die „zweite Renaissance“ in die Geschichtsdateien einging. Immer mehr Menschen, ob es nun Politiker, Unternehmer, Künstler, Wissenschaftler oder sog. Normalbürger waren, wurde klar, dass es radikaler Umorientierungen bedurfte, um die Hypotheken des Industriezeitalters, die dem Revier viele Wunden geschlagen hatten, endgültig zu überwinden und einen entscheidenden Durchbruch zu erreichen.

Auf der denkwürdigen Ruhrkonferenz im Jahre 2014, die getragen war von einer breit in der Bevölkerung verankerten Forderung nach grundlegender Erneuerung, wurden erstmals alle kleinlichen Konkurrenzen und Partikularinteressen der Revierstädte zurückgestellt, indem man alles, was diskutiert und angeschoben wurde, dem globalen Gesichtspunkt der Weltstadt Ruhr unterordnete. Es wurde also nicht mehr gefragt, was nutzt oder schadet der Einzelstadt X oder Y, sondern es wurde gefragt, wie stellt sich eine Ruhrstadt im europäischen und weltweiten Konzert der Metropolen auf, und was ist dafür notwendig. Große Einigkeit bestand darin, die positiven Traditionen und Eigenheiten des Reviers zu fördern, denn Ruhrstadt sollte und wollte nichts kopieren. Ihr Markenzeichen sollte ein unverwechselbares Gesicht sein, das sie sowohl einmalig machte, als auch gleichrangig neben andere Metropolen stellte.  

Zu den revolutionärsten Beschlüssen der Konferenz zählten vor allem diese:

1) Die alte politische Struktur mit dem typischen Städtekonglomerat, welches ja die berüchtigte Kompetenzzersplitterung zur Folge hatte, wurde aufgehoben. Stattdessen schuf man die Ruhrstadt mit drei Ebenen. In den Gemeinschaften (gleichbedeutend mit den alten Städten) verblieben alle Entscheidungen über die unmittelbaren Belange der Bürgerinnen und Bürger. Alle übergreifenden Regelungsnotwendigkeiten (Verkehr, Planung etc.) wurden dem Polit-Management Ruhr übertragen, einer demokratisch kontrollierte Behörde, die nach den damals modernsten Organisationsprinzipien arbeitete. Schließlich wurde ein Ruhrsenat geschaffen, dem alle Außenangelegenheiten zugeordnet wurden.

2) Weiter beschloss die Ruhrkonferenz von 2008, drei Stiftungen einzurichten. Erklärtes Ziel der Stiftung ‚Bildung und Wissen’ war es, alle Begabungsreserven der Revierbevölkerung so weit wie möglich auszuschöpfen. Die Stiftung ‚Genius’ hatte die Aufgabe, allen Erfindern, egal, wo sie herkamen, die Möglichkeit zu geben, ihre Ideen weiterzuentwickeln. Die Stiftung ‚Neue Ökonomie’ bemühte sich dagegen, allen Unternehmen in Ruhrstadt zu helfen, aus verkrusteten und überhierarchisierten Strukturen herauszukommen und Zukunftsszenarien für ihre Produkte zu erstellen.

3) Das durch die Ruhrtopia Revue neu entstandene Geflecht aller Kulturschaffenden wurde zu einem Netzwerk Kultur ausgeweitet.   Sofort nach der Konferenz begann man mit der zügigen Umsetzung der Ergebnisse, indem man die gesetzlichen Voraussetzungen schuf und die neuen Institutionen etablierte. Im Gegensatz zu vielen Befürchtungen ließen sich die Reformen so gut an, dass sich bereits nach wenigen Jahren ein weltweit neues Profil der Ruhrstadt herauskristallisierte. Während die Stiftung ‚Genius’ und die Stiftung ‚Bildung und Wissen’ viele helle Köpfe anlockten bzw. hervorriefen, die für einen regelrechten Innovationsschub sorgten, bereitete die Stiftung ‚Neue Ökonomie den Boden für die schnelle Umsetzung genialer Ideen in neue Produkte und Dienstleistungen. Investoren aus aller Welt standen Schlange, zumal sie auch von dem gesellschaftlichen Klima fasziniert waren, welches maßgeblich vom Netzwerk Kultur geprägt wurde. Dieses erwies sich als besonderer Renner, da es nicht nur eine regelrechte Explosion von Kunst, Kultur, Sport und Entertainment hervorrief, sondern auch eine sozialintegrative Funktion übernahm, indem es die sozialen Traditionen des Ruhrgebiets mit neuen Formen eines humanen Zusammenlebens zu verknüpfen verstand. Insofern widerlegte die Ruhrstadt das Vorurteil, Metropolen müssten durchweg unwirtlich und menschenfeindlich sein. Auf diese Weise konnte Ruhrstadt eine einzigartige Leitfunktion in der Welt für eine menschlich gestaltete Metropole übernehmen.  

Heute ist Ruhrstadt längst zu Ruhrtopolis geworden.

Nach einer kürzlich von der UNO veröffentlichten Studie hat Ruhrtopolis von allen Weltmetropolen den höchsten Lebensstandard, die geringste Kriminalitätsrate und die wenigstens sozialen Verwerfungen. Der durchschnittliche Bürger von Ruhrtopolis ist materiell abgesichert, gebildet, tolerant, weltoffen und lebt in einer funktionierenden sozialen Gemeinschaft, welche übrigens sehr unterschiedliche Formen aufweisen kann und problemlos je nach der Lebenssituation öfter auch gewechselt wird. Typisch für Ruhrtopolis ist die spezifische „Piazza-Kultur“ geworden, denn im Gegensatz zu den Befürchtungen, die zunehmende Verlagerung der Arbeit in das eigene Heim würde zu Isolation und Vereinzelung führen, hatte sich als Gegenreaktion ein unglaublich lebendiges öffentliches Leben herausgebildet, das sich auf den unzähligen Plätzen und Fußgängerstraßen abspielt. Da viele Bereiche von riesigen, luftigen Kuppeln aus künstlicher Spinnenseide überdacht sind, wird das quirlende Leben auch von ungünstigen Witterungseinflüssen nicht mehr beeinträchtigt.

Die Produkte „Made in Ruhrtopolis“ sind weltweit hoch begehrt. Molekularcomputer, Nano- und Gentechnologie v.a. im Gesundheitswesen, eine florierende Roboterproduktion und vieles mehr haben die Ökonomie von Ruhrtopolis auf eine breitgefächerte, äußerst stabile Grundlage gestellt. Im Bezirk Solar-City (von Gelsenkirchen spricht kaum jemand mehr) werden die berühmten Wundersonnenzellen hergestellt, die für eine Energierevolution sorgten, weil sie die Energiekosten bei höchstem ökologischen Standard radikal senkten und zudem äußerst effizient sind. Im Bezirk Logistica (früher Duisburg) befindet sich einer der modernsten, weltweit führenden Umschlagplätze für Güter aller Art. Im Bezirk Modenia (Essen oder Bochum) wird u. a. intelligente Kleidung mit umwerfend schönem Design hergestellt, die eine globale Kundschaft Ruhrtopolis förmlich aus der Hand reißt. Es bedarf kaum der Erwähnung, dass Ruhrtopolis mit seinen Industriedenkmälern und seiner humanen Modernität auch zu einem begehrten Reiseziel geworden ist. Die Touristenströme sind Legion, was natürlich zu einer blühenden Hotel- und Gastronomielandschaft geführt hat. Selbst eine Delegation der Mars-Kolonie konnte vor einer Woche von einem der fünf virtuellen Oberbürgermeister der Stadt Ruhrtopolis, dem beliebten Frank Roland Öztürk, begrüßt werden.  

Bald nun wird Ruhrtopolis vor einem historischen Ereignis stehen: Der Weltraumlift wird eröffnet und zur Nutzung freigegeben!

Genau über Ruhrtopolis befindet sich im Erdorbit eine Weltraumstation, die mit der Ruhrtopolis-Bodenstation durch ein gigantisches Kabel verbunden ist.

An ihm bewegen sich komfortable Kabinen, mit denen man wie in einem Fahrstuhl ins All gelangen kann. Damit entfallen die aufwendigen und extrem teuren Raketenstarts, und ein Besuch der Orbitalstation, der Mondbasis oder der Marskolonie sind nun auch für Normalbürger erschwinglich. So hat Ruhrtopolis seine Tradition, auch im Verkehrswesen seit Jahrzehnten die Nase vorn zu haben, in eine neue Dimension geführt. Wegen dieses Großereignisses, das natürlich mit einem rauschenden Fest gefeiert wird, musste der Ruhrsenat leider den dringenden Wunsch des IOC ablehnen, in Ruhrtopolis die olympischen Spiele durchzuführen. Das IOC wurde auf einen späteren Termin vertröstet.{jcomments on}

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Von Hans Frey

Hans Frey (geb. 24.12.1949 in Gelsenkirchen, verw., drei Kinder) studierte Germanistik und Sozialwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum und arbeitete dann als Studienrat an einem Gelsenkirchener Gymnasium. 1980 wurde er in den Landtag von Nordrhein-Westfalen gewählt, dem er bis 2005 angehörte. Seit dieser Zeit lebt er (formal) im Ruhestand. Neben der Politik war und ist Hans Frey publizistisch und künstlerisch engagiert. U. a. kreierte er 1996 als Drehbuchautor und Regisseur die Stadtrevue „Ja, das alles und mehr…“, gab sieben Jahre lang das Stadtmagazin DIE NEUE heraus und gehörte 2004 zu den Mitinitiatoren der Kunstausstellung RUHRTOPIA in Oberhausen. Im September 2007 war er Mitbegründer von gelsenART e. V., Verein zur Förderung von Kunst und Kultur im Ruhrgebiet. Unter seinen Buchveröffentlichungen finden sich u. a. - der fantastische Roman „Die Straße der Orakel“, der in einer Antike spielt, die man so aus den Geschichtsbüchern nicht kennt (2000), - das Sachbuch „Welten voller Wunder und Schrecken – Vom Werden, Wesen und Wirken der Science Fiction“ (2003), ein umfangreiches Werk, das alle Facetten der Science Fiction beleuchtet, - und sein aktuell letztes Buch (September 2009), der erste Band seiner politischen Autobiografie „Ja, das alles und mehr! – Geschichte und Geschichten aus 35 Jahren Politik“ mit dem Titel: „Wilder Honig“.

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