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Alfred Lichtenstein (1889-1914): die Stadt als berauschende Droge

Gesänge an Berlin O du Berlin, du bunter Stein, du Biest. Du wirfst mich mit Laternen wie mit Kletten. Ach, wenn man nachts durch deine Lichter fließt Den Weibern nach, den seidenen, den fetten. So taumelnd wird man von den Augenspielen. Den Himmel süßt der kleine Mondbonbon. Wenn schon die Tage auf die Türme fielen, Glüht noch der Kopf, ein roter Lampion. Bald muß ich dich verlassen, mein Berlin. Muß wieder in die öden Städte ziehn. Bald werde ich auf fernen Hügeln sitzen. In dicke Wälder deinen Namen ritzen. Leb wohl, Berlin, mit deinen frechen Feuern. Lebt wohl, ihr Straßen voll von Abenteuern. Wer hat wie ich von eurem Schmerz gewußt. Kaschemmen, ihr, ich drück euch an die Brust. In Wiesen und in frommen Winden mögen Friedliche heitre Menschen selig gleiten. Wir aber, morsch und längst vergiftet, lögen Uns selbst was vor beim In-die-Himmel-Schreiten. In fremden Städten treib ich ohne Ruder. Hohl sind die fremden Tage und wie Kreide. Du, mein Berlin, du Opiumrausch, du Luder. Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide. Ganz anders hier die Reaktion Lichtensteins auf die Metropole Berlin, die dem Sprecher des Gedichts Lebenselixier, ja, Rausch ist. Die sechs Strophen des Gedichts beschreiben Stadtelemente und die Wirkung dieser Elemente auf den Sprecher, der sich als Bewohner Berlins sieht und vor einem Abschied (aus welchem Grund auch immer) aus Berlin steht. Berlin, das macht schon die erste Zeile klar, wird als Gegenüber personifiziert (du) und in seiner Widersprüchlichkeit erfasst (bunter Stein, Biest). Auch Lichtenstein, hier ähnlich wie Trakl, schildert Sinneseindrücke, die aber wesentlich durch Licht hervorgerufen werden, das die Nacht erhellt. In diesem Licht scheint sich der Sprecher nahezu aufzulösen: er „fließt“ in diesem Licht durch die Stadt, er gerät ins Taumeln. Wenn Trakl von den Mädchen an Toren spricht, dann setzt Lichtenstein andere Akzente, wenn er auf die weiblichen Nachtgestalten abhebt, die er als „Weiber“ (von denen es „seidene“ und „fette“ gibt), kennzeichnet. Der Sprecher bei Lichtenstein wird von seinen Trieben und dem Licht der Großstadt durch die Nacht gesteuert (den Weibern nach). Und dieses Nachtleben dauert bis zum Morgen des folgenden Tages (wenn schon die Tage auf die Türme fielen).

Die Strophen 1 und 2 habe eine Art expositorische Funktion: der Sprecher wird eingeführt, sein Nachtleben wird geschildert, Berlin wird als eine von Licht durchflutete Metropole gezeigt. Und dieses Licht ist so gewaltig, dass der Mond zu einem „kleinen Mondbonbon“ schrumpft. Die nächtliche Stadt „heizt“ den Sprecher auf: sein Kopf glüht noch am Morgen.

In den Strophen 3 und 4 greift Lichtenstein das Abschiedsmotiv auf und er setzt Berlin, das er verlassen muss, nun andere Elemente gegenüber: „öde Städte“ und Natur (ferne Hügel, Wälder). Der persönliche Bezug zu Berlin wird in der dritten Strophe zweifach verstärkt: einmal durch das Possesivpronomen (mein Berlin) und zweitens dadurch, dass Berlin den Status einer Geliebten erhält: der Name der Stadt wird in einen Baum geritzt. In der vierten Strophe kennzeichnet der Sprecher Berlin als Ort von Abenteuern, und erneut wird ein persönlicher Bezug hergestellt: er personifiziert die Kaschemmen, die er – zum Abschied – an seine Brust drückt wie einen guten Freund oder eine Geliebte.

In der 5. Strophe wird der Stadtbewohner anderen Menschen (friedliche heitere Menschen) gegenüber gestellt: mögen diese der Natur zugewandt sein (Wiesen, fromme Winde), so empfindet der Stadtbewohner eine Begeisterung für diese Naturelemente als Lüge, als Selbstbetrug. Zwar wird der Stadtbewohner als „morsch und längst vergiftet“ gekennzeichnet, er sieht aber in der Natur und einer – ironisch-polemischen akzentuierten – damit verbundenen Hinwendung zum Transzendenten (in-die-Himmel-Schreiten) keine Alternative.

Die 6. Strophe fasst die bisher geschilderten Eindrücke und Aussagen noch einmal zusammen und steigert sie: die Stadt ist für den Sprecher „Opiumrausch“ und „Luder“, also ein sinnlich-sexuell konnotiertes Gegenüber – wogegen er an anderen Orten Orientierungslosigkeit, Fremdheit, Langeweile, Leere und letztlich Verlust empfindet. „Fließt“ der Sprecher in der 1. Strophe im Licht der Stadt, so baut er in der 6. Strophe den Gegensatz dazu auf: er treibt in anderen Städten orientierungslos (ohne Ruder) durch die Zeit (hohl sind die fremde Tage und wie Kreide). Den Höhepunkt bildet die Schlusszeile, in der Lichtenstein Goethe gleichzeitig paraphrasiert, parodiert und auf den Kopf stellt: bei Goethe (Lied Mignons und des Harfners aus „Wilhelm Meisters Lehrjahre“) löst der Blick ans Firmament die Sehnsucht als schmerzliche Empfindung aus, bei Lichtenstein ist die Sehnsucht auf das „Luder“ Berlin gerichtet und das „in-die –Himmel-schreiten“ (letzte Zeile der 5. Strophe) wird als Selbstbetrug dargestellt. Nicht einer transzendenten Kraft oder Macht gilt also die Sehnsucht, sondern der Stadt Berlin – einer Stadt voller Lichter, Abenteuer und Abgründe – die den Stadtbewohner in einen Rausch versetzen.

 

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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