Exkurs 2: SPD-Filz – oder was?
An dieser Stelle ist ein Einschub erforderlich, da ich schon den vielstimmigen Chor höre, der mich zum Kronzeugen für den sog. „Filz-Vorwurf“ gegen der SPD machen will. Na bitte, so tönt es, besser kann man dieses System doch gar nicht beschreiben. Meine Antwort: Ein bedingtes „Ja“ und ein deutliches „Nein“!
► Ja, meine Damen und Herren, gerade das hat uns ja gestört, und deshalb sind wir dagegen angegangen, und zwar innerhalb der SPD! Bemerkenswert ist, dass die Opposition in der SPD nicht nur möglich war, sondern dass wir auch entscheidende Strukturreformen durchsetzen konnten. Das hat gezeigt: In der SPD gab (und gibt) es immer noch so viel demokratische Substanz, um aus eigener Kraft Fehlentwicklungen korrigieren zu können.
► Nein, meine Damen und Herren (v. a. aus dem bürgerlichen Lager), den pauschalen Filz-Vorwurf akzeptiere ich nicht! Die Geschichte der Sozialdemokratie ist über weite Strecken durch Entbehrung, Verfolgung und Unterdrückung gekennzeichnet. Daraus entwickelte sich als historische Überlebensnotwendigkeit ein besonderes Zusammengehörigkeitsgefühl, das sich in gegenseitiger Hilfestellung und Unterstützung äußerte.
Erst diese Art der Organisation gab den ansonsten Machtlosen einen gewissen Schutz vor materieller Not, Repressalien, Diskriminierung und Ausgrenzung. Das ist etwas grundsätzlich anderes als der Filz des Bürgertums. Ungeniert schiebt sich das Bürgertum schon seit Jahrhunderten die Pfründe zu, ohne dabei die Spur eines schlechten Gewissens zu haben. Hier handelt es sich übrigens um echte Pfründe mit richtigem Geld und großen Privilegien, nicht etwa um eine zugige Zwei-Zimmer-Wohnung oder einen Hausmeisterposten. Da die Stadtverwaltungen seit Jahren unter chronischem Stellenabbau leiden, Mietwohnungen kein begehrtes Gut mehr sind und sich überhaupt die Einstellung zu derlei Unterstützungen auch in der SPD grundsätzlich gewandelt hat, haben sich mittlerweile auch diese begrenzten Möglichkeiten gegen Null bewegt. Derweil sind die bürgerlichen Seilschaften wie eh und je fröhlich dabei, sich gegenseitig die gebratenen Fasane in den Mund zu stopfen. Mein Einschub ist auch deshalb notwendig, um einer möglichen Schieflage in der historischen Beurteilung der beteiligten Personen entgegenzuwirken.
Kurz gesagt: Wir waren nicht „die Guten“, und die anderen waren nicht „die Bösen“. Unabhängig von persönlichen Defiziten und politischem Fehlverhalten auf dieser oder jener Seite ging es in Wirklichkeit auch um unterschiedliche historische Erfahrungen und Sozialisationen, die aufeinander prallten und die sich in graduell anderen Politikverständnissen und anderen politischen Verkehrsformen niederschlugen. Die sozialdemokratische „Altriege“ hatte durchweg Weimar, die Nazi-Barbarei, den Krieg und die harten Nachkriegsjahre u. a. mit dem erneuten Abwehrkampf gegen die Kommunisten erlebt und war entsprechend geprägt. Wir dagegen waren Kinder der jungen Demokratie und des neuen Wohlstands, die die ungenutzten Potenziale der Republik erkannt hatten und ausreizen wollten.
Was die Altvorderen oft als Gefahr und Bedrohung empfanden, waren in unseren Augen Chancen, die man am Schopfe packen musste. Den berühmten Ausspruch Willy Brandts „Mehr Demokratie wagen“ bezogen wir nicht nur auf andere, sondern auch auf die eigene Partei, und ich vermute, dass Willy Brandt dem nicht widersprochen hätte.