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Tag 3

Montag, 26.11.2011 Galerie auf Zeit von Oven Straße 10

18:00 Der Film

Die Filmemacher Stefan Bahl und Dirk Gerigk liefern vor dem Hintergrund ihrer Produktionsumstände ein erstaunlich harmonisches Werk ab. Sie haben die Aufführung der Schattner Oper „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ in Bayreuth dokumentiert. Drei Kameras, aber kein Mischpult, Unkenntnis der Inszenierung, problematische Akustik, extreme Lichtverhältnisse, das waren die Rahmenbedingungen. Und doch hat ihr Film Atmosphäre eingefangen, bleibt ihre Arbeit ruhig, stimmig und stellt die Künstler in den Vordergrund, folgt der Inszenierung, statt eine eigene Bildsprache aufzupropfen. Das Netto-Publikum, bereinigt von Akteuren des Films und der Inszenierung, bestand aus einem den Bildern selbstvergessen folgenden, Kette rauchenden Mann und mir.

Dem Publikum gefiel es.

Die Oper

Unverbildet und unvorbreitet nähere ich mich dem oder den der Welt in Bayreuth abhanden Gekommenen. Ich finde sie nicht. Ich nehme die Oper als meinen mir ganz persönlich zugedachten Scheinriesen Tur Tur, dessen Einsamkeit ich aufbrechen muss. Dennoch, nicht nur, dass ich auf der Stelle laufe, ich versinke auch noch im Boden. Große, pure Gefühle werden mir dargeboten und verlieren doch ihre Wirkung, weil ich Gedanken nicht abschalten kann.

Warum kopulieren dicke Damen auf dem Tisch miteinander? Warum taucht dieser Harlekin mit dem Laubgebläse immer wieder auf und verwirbelt weiße Luftballons?

Tontechnisch- und raumklangbedingt, sind nur ab und zu Worte zu erkennen, selten komplette Sätze zu dechiffrieren. Die Handlung erschließt sich mir nicht. Schwarze und weiße Engelsflügel wechseln die Besitzer, der Held besingt einen Monitor, in dem ein Emergency Room Trailer zu laufen scheint. Die schwer Verletzte will einfach nicht sterben, blaue Handschuhe streicheln zart die Brust der Wehrlosen – huch – so wird also reanimiert?

Alle singen, werfen Flocken und Blätter, ballerinen herum, reiten auf Stäben, täschtscheln Geschlechter und läuten furzend den zweiten Akt ein. Mann und Frau schweben auf dem Trapez, um 19 Uhr zieht die MLPD-Montagsdemo draußen vorbei und Durchhalte- und Kampflieder mischen sich mit dem Bühnengeschehen. Endzeitstimmung. Meine Gedanken schweifen ab und ich sehe Szenen aus „Kinder des Olymp“ vor mir. Nebel wallen, Vorhänge zerfetzen, Seifenblasen platzen, ein Elflein winkt, eine Dicke sinkt, eine Dünne boxt, ein Metronom klopft. Großer Applaus und Zugabe.

Ich werde nachlesen was ich sah, um die Gefühlswelten zu begreifen, die mir stilisiert angeboten wurden. Irritierend. Bayreuth stand Kopf vor Begeisterung, hörte ich. Nur Herr Tur Tur bleibt weiter einsam, sehr einsam.

Dem Publikum gefiel es.

20:00

Aus Respekt vor dem zivilgesellschaftlichen Engagement des KPR Teams und zur Würdigung ihrer Gesamtleistung, unterbrach das Musical-Ensemble von „Wenn Rosenblätter fallen“ ihre Promotion Tour, um vor 40 Zuhörern in Gelsenkirchen seine Aufwartung zu machen.

Noch bevor sie singen spürt jeder, dass der Pianist Joachim Berger und die Sänger Carin Filipcic, Dirk Johnston, Jana Stelley unbändige Lust mitbringen, hochmotivierte, auf den Punkt konzentrierte Profis sind. Der tosende Applaus, die Bravo Rufe nach jeder Nummer, zeichneten sich schon vorher ab. Das Publikum ist völlig chancenlos gegen die Magier der Gefühlsmanipulation.

Ihr wollt Gänsehaut? Bitteschön – dafür nehmen wir diese drei Takte.

Ihr wollt Rührung? Da – 4 Takte und ein Duett mit Stimmen, dass Raum und Zeit verschwinden.

Das Musical richtet sich an eine unerschlossene Zielgruppe, die bisher leichte Kost und Instant-Gefühle von Starlight Express und ähnlichen Produkten verschmähten. Der Plot: Mutter-Sohn Beziehung. Kindheit, Pubertät, Sterbebegleitung der Mutter durch den Sohn, Beziehungsaufarbeitung nach ihrem Tod durch die kathartische Wirkung der Liebe zu einer Frau.

Das Pärchen zankt sich, versöhnt sich, liebt sich. Happy End. Ein unvergesslicher Kurzauftritt, der Publikum und Akteure strahlen ließ.

Dem Publikum gefiel es.

21:15

Verwirrend – die Aserbaidschanerin Aziza Mustafa Zadeh webt einen Klangteppich in einem Gelsenkirchener Hinterhof? Was da an Tönen perlt, jazzig Orient und Okzident verbindet, Bazar und Cotton Fields vereint, in Boogie Woogie Arabesken einflicht, ist aber eine Klavier-Improvisation Akin Sipals. Der ist ein Ausnahmetalent, Blogger, Fotograf, Maler, Filmemacher und Student der Hamburger Kunsthochschule.

Zur Hälfte türkisch, zur Hälfte deutsch, Mutter Opernsängerin und Mathematikerin, taucht er spielend in mehrere Kulturen ein und schöpft aus diesen Spannungsfeldern seine Kreativität. Man ahnt: der wird ein Großer.

Dem Publikum gefiel es.

 

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Von Heinz Niski

Handwerker, nach 47 Jahren lohnabhängiger Arbeit nun Rentner. Meine Helden: Buster Keaton, Harpo Marx, Leonard Zelig.

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