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Eine Theorie besagt, Kultur sei eine Antwort auf die Anforderungen des Überlebens. Ob dies zutrifft oder nicht, lasse ich hier dahingestellt.

Als Aufhänger für die nun folgenden Überlegungen ist sie jedoch allemal geeignet: Gelsenkirchen – eine Entwicklung vom Dorf zur Stadt zum Teil einer Multipolis – welche Überlebensanforderungen stellt dies und wie werden sie in Kultur umgesetzt?

Was benötigt ein Dorf an Kultur?

Rurales Zusammenleben erfordert starke Sozialkompetenzen: relativ wenige Menschen teilen sich einen überschaubaren Lebensraum. Kultur fungiert hier als alltags- und feiertagsstrukturierendes Element, das genaue Regeln kennt und auf deren Einhaltung es besteht. Kunsthandwerkliche Elemente gestalten und verschönern Heim und Kleidung, man erkennt sich am Typischen. Gelsenkirchen nun hatte das Glück oder auch nicht, auf Kohlen zu sitzen, die Kapital und „Kapitalisten“ (wer mag, kann die Gänsefüßchen streichen) und im Nachhall unendliche Menschenmassen anzogen, die ausschließlich aus wirtschaftlichen Gründen das Dorf zur Stadt vergrößerten.

Das Dorf verschwand indem es absorbiert wurde und zu einem Vielfachen seiner ursprünglichen Größe aufgebläht wurde. Mit dem Dorf verschwand viel von der hiesigen Kultur des Dörflichen, stattdessen kultivierten die Neuankömmlinge mit Hacken und Spaten und Worten, Flöze, Gärten und Sprache. Gelsenkirchen wurde ostpreußische „Enklave“, rurale Traditionen aus Allenstein und Umgebung verschmolzen mit den Anforderungen einer technischen Arbeitsumwelt.

Für Kultur braucht es Muße und Zeit, auch Wissen.

Wieviel Zeit hatte ein Bergmann für Kultur übrig? Wieviel seine Frau? Und: Wer von den „Kapitalisten“ hatte echtes Interesse an Kulturvermittlung und -durchdringung des Kumpels und Arbeiters? Und, um zur einleitenden Theorie zurückzukehren, welche Kulturform kristallisierte sich als Überlebens – Vehikel eigentlich heraus? Es entstanden die klassischen Parallelwelten einer frisch urbanisierten Region. Und zwei Kulturregionen: die der arbeitenden Bevölkerung und die der Brotgeber. Erst langsam kam man auf die Idee der kulturellen Teilhabe aller Bewohner einer Stadt.

Viel zu spät für viele Menschen.

Viele der Kindeskinder der „einfachen“ Leute von damals, haben bis heute keinen Zugang zur Kultur, weder zur konventionellen noch zur modernen „StreetArt“ à la Autobahnbegehung. Die bildungsbürgerliche Kultur ist fremd. Sie ist nicht zugehörig, wird weder erkannt noch entschlüsselt. Mangelnde Bildungsvoraussetzungen schränken nicht nur Berufs- sondern auch Kulturchancen ein. Ein schlechtes Geschäft für beide Seiten. Kulturelle Wegbereitung muss im frühen Kindesalter ansetzen. Hier gilt es zu überlegen, welche kulturellen Werte und Techniken in welcher Form vermittelt werden können. Eine Erziehung dieser Art verlangt aber wiederum nach entsprechend vor- und ausgebildeten Erziehern. Bislang rekrutieren diese sich aber nicht aus den kulturell beflissenen Schichten. Es gibt viele Punkte an denen man ansetzen kann, um Kultur zu vermitteln. Am leichtesten und nachhal(l)tigsten ist es jedoch, bei kleinen Kindern anzusetzen. Sie kennen keine antikulturellen Vorbehalte und haben noch Neugier und Aufnahmevermögen.

Hier treffen wir auf in höchstem Maße kulturbereites Terrain.

Dazu noch ein Zitat aus dem Neuen Testament: „Nicht der Gesunde braucht einen Arzt, sondern der Kranke“, in diesem Zusammenhang sollte endlich darüber nachgedacht werden, wie möglichst zeitnah Bildung an Kinder herangebracht wird. Den Gusto kulturell Bewanderter zu bedienen, ist vergleichsweise einfach, aber wer ist bereit den Acker zu bestellen und die Saat an die Nachkommen zu verteilen? Die Anforderungen eines sich neu strukturierenden Großraums wie des Ruhrgebiets, erfordert ein Maß an kultureller Kompetenz und kulturellen Techniken, das weit über das Bekannte hinausgeht. Sind wir bereit dafür und wer hilft endlich denjenigen, die es noch nicht sind?

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Von Henry Farin

Henry Farin (* August 1973) ist ein deutscher Kulturschaffender.

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