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Industriezeitalter

Trotz dieser mittelalterlichen Vorgeschichte ist das Buer, das dann vor 100 Jahren Stadtrechte erhielt, wie das Ruhrgebiet vor allem ein Produkt des Industriezeitalters. Von den Hellwegstädten und Teilen des Ruhrufergebiets abgesehen war das spätere Ruhrgebiet und auch Buer noch gegen Mitte des 19. Jahrhunderts eine mit etwa 250.000 bzw. 4.000 Einwohnern dünn besiedelte, überwiegend dörflich-agrarisch geprägte, abgelegene und administrativ zersplitterte Region mit einigen verstreuten Klöstern, Herrensitzen, Kirchdörfern und Bauernschaften. Geprägt wurde die Gegend dann seit der Industrialisierung vom Steinkohlenbergbau und seinen Folgeindustrien, enger Verbindung zwischen Wohnen und Arbeiten und einer überwiegend „neuen“, zugewanderten Bevölkerung.

Für die seit Mitte des 19. Jahrhunderts wuchernden Gebilde aus Industrieanlagen, Siedlungen, Verkehrswegen, Brachen und Leerflächen, die als relativ unselbstständige kommunale Gebilde kaum die Mindestausstattung an Infrastruktur gewährleisten konnten, wurde der Begriff „Industriedörfer“ geprägt, vielfach war von defizitärer Urbanisierung die Rede.Vor allem in der Hellwegzone, wo zu Beginn der Industrialisierung schon etwas größere Landstädtchen oder gar eine allerdings mittlerweile recht heruntergekommene freie Reichsstadt wie Dortmund bestanden hatten, oder in Duisburg am Rhein und auch Mühlheim, behielten Handel und Verkehr und eine Reihe von Dienstleistungen eine größere Bedeutung als in den fast allein von der Montanindustrie geprägten Industriedörfern im Norden, die auch nur unter Schwierigkeiten zu einer Stadtbildung gelangen konnten. Die Hellwegstädte waren und blieben eben auch Handelsplätze und Verkehrsknotenpunkte, in der Emscherzone gelang eine Stadtbildung nur unter Schwierigkeiten. Beim Übergang in die vestische Zone traf die Industrialisierung auf Landgemeinden, wie Buer eine war.

Hier trafen alte Strukturen und Industrie zusammen, was man in Buer ja deutlich sehen kann – hier der noch erkennbare Kern, dort die recht großen neuen Siedlungen um die Anlagen der Bergbauindustrie. Buer, das in der Gegenwart mehr als die Hälfte der Gelsenkirchener Stadtfläche ausmacht, kam zugute, dass der heutige Gelsenkirchener Norden (ohne Horst) ein verwaltungsmäßig einheitliches Gebiet war. Die heutigen Ortsteile, oder umgangssprachlich „Stadtteile“, bestanden zuvor nicht wie im Süden als selbstständige Gemeinden. Buer war das Zentrum der verstreuten Bauerschaften, aus deren Namen oder Flurbezeichnungen die späteren Statteilnamen entstanden. Daher hieß es noch lange „Buer-Erle“, „Buer-Hassel“, „Buer-Scholven“ usw. Auch bei der Bildung der neuen Siedlungskerne hatte man in Buer Glück: Aufgrund der relativ späten Erfassung durch den Steinkohlenbergbau und die relativ großen Freiflächen konnten großzügige Siedlungen um die Schachtanlagen entstehen. Diese Schachtanlagen waren zudem technisch schon weiter fortgeschritten, und weil der Schachtbau im Norden mit seiner tiefer liegenden Kohle hohe Investitionen notwendig machte, baute man nicht mehr so viele Schächte, eher wenige große leistungsfähige Doppelschachtanlagen. Dazu war der preußische Staat mit seinen Zechen ein wesentlicher Akteur im Norden und baute für damalige Zeit recht vorbildliche Siedlungen wie eben die grünen Gartenstadtsiedlungen in Hassel. Auch folgte bis auf das kleine Eisenwerk König die Eisen- und Stahlindustrie dem Steinkohlenbergbau nicht über die Emscher. So sieht bis in die Gegenwart Buer etwas „aufgeräumter“ aus als der heutige Stadtsüden mit seinen früheren Industriedörfern mit ihrer Gemengelage aus Industrieanlagen, Siedlungen, Verkehrswegen, Infrastruktureinrichtungen und dem Gewirr der Versorgungsleitungen. Auch ist Buer nicht so dicht besiedelt wie der Stadtsüden.

Der Steinkohlenbergbau in Buer wuchs rasant. 1921 förderten in Buer 5% der Ruhrbergleute 5% der Steinkohle des Ruhrgebiets. Wegen des Bedarfs an Arbeitskräften, wurde die Zuwanderung zum wesentlichen sozialen Element des Industrialisierungsprozesses im ganzen Ruhrgebiet. Anfangs genügten die Arbeitskräfte, die aus der näheren Umgebung von besseren Löhnen angezogen wurden. Ab dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts wurden verarmte Bauern, Landarbeiter und Tagelöhner aus dem Osten des Deutschen Reiches angeworben. Die Hoffnung, das eigene Schicksal durch Industriearbeit im Ruhrgebiet zu verbessern, war durchaus real: Die Bergarbeiterlöhne lagen zwischen 1890 und 1913 durchschnittlich um etwa 25% über denen der Gesamtindustrie im Reichsdurchschnitt.

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Von Stefan Goch

Stefan Goch ist Jg. 1958, Sozialwissenschaftler, Dr. soc., Leiter des Instituts für Stadtgeschichte in Gelsenkirchen, apl. Prof. an der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum

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